Juan Medcalf, sein Abschied aus Cajamarca - von Willi Knecht

 

Es war der 16. November 1999, der Jahrestag der Gefangennahme von Atahualpa und der ersten Begegnung der Menschen von Cajamarca mit der christlichen Botschaft. Etwa 100 Männer und Frauen aus den Landzonen der Diözese Cajamarca saßen im Kreis auf dem Lehmboden. Die Delegierten der Landbibliotheken (Bibliotecas rurales) waren nach Cajamarca gekommen, um zusammen mit  Padre Juan Medcalf  die Eucharistie zu feiern. Es herrschte eine tiefe Dunkelheit. In der Mitte des Kreises war ein großes Tuch ausgebreitet. Außerhalb des Tuches lag wie weggeworfen im Dunkel eine alte Bibel im Staub, sie war kaum erkennbar. Die Feier begann mit einer Gabe an die Mutter Erde, an die Kinder der Erde und deren Ahnen. Zwei Katecheten baten Mutter Erde um Verzeihung für die an ihr begangenen Sünden und für das Versagen der Kinder dieser Erde untereinander. Die Gaben, Früchte der Erde und Cocablätter, wurden auf die vier Ecken des Tuches in der Mitte des Kreises verteilt. Nachdem auf diese Weise der sakrale Bereich (wieder) hergestellt war, wurde von einem Katecheten die Bibel vom Staub aufgehoben, wo sie über Jahrhunderte unbeachtet lag. Dann legte er die Bibel in die Mitte des Tuches und zündete ein Licht an. Die Bibel wurde damit als Quelle des Lebens in die Mitte des sakralen Bereiches aufgenommen.[1] Ein anderer Katechet trat nun barfüßig in die Mitte des sakralen Raumes, schlug die Bibel auf und las die Worte Jesu: „Der Geist des Herrn ruht auf mir, denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen die Gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Freiheit verkünde und die Blinden sehend mache; damit ich die Zertretenen aufrichte und eine Zeit der Gnade ausrufe“ (Lk 4, 18,19). Nach jedem der vier Sätze wurde ein neues Licht an je einer Ecke des Tuches - des sakralen Raumes - angezündet. Nach der Proklamation der Botschaft Jesu wurde das Licht an alle verteilt und sie begannen zu sprechen: „Dank an Padre Juan, der Sämann war, der aussäte und dessen Saat auf fruchtbaren Boden viel, wo sie Wurzeln fasste, heranwuchs und dann reife Früchte trug. Padre Juan ging über das Land, war unermüdlich zu Fuß unterwegs; er fand Begleiter und daraus entstand eine starke Bewegung“. „Die Ahnen sind die Wurzeln und der Stamm, ohne die wir wie welke Blätter wären. Dank der Bibliotecas rurales beginnen nun aus dem trockenen Holz neue Keime zu sprossen, die uns helfen, die Weisheit unserer Ahnen nicht zu vergessen“. „Wir haben gelernt zu respektieren, was unsere Ahnen respektiert haben: den Respekt vor unserer Mutter Erde und vor allen Söhnen und Töchtern dieser Erde!“ „Wir erarbeiten nichts Neues, wir bestätigen nur was war: den Respekt vor der Natur und vor den Mitmenschen. Und allein diese Haltung ist für die Mächtigen ein Stein des Anstoßes“. „Die Bibel hilft, uns selbst zu entdecken, wer wir sind und wohin wir gehen“. „Lesen zu lernen, seine Geschichte und seine Herkunft zu entdecken, bedeutet, endgültig den Kolonialismus zu überwinden, d.h. nicht mehr sein zu wollen wie der weiße Eroberer, sondern stolz zu sein auf die eigene Identität“. „Wer am meisten lesen will, sind die Armen und nicht, wie man oft meint, die Arrivierten. Denn die Armen haben das größte Bedürfnis, ihre Situation zu überwinden bzw. zu verändern“. „Das Buch war nach Meinung von uns selbst nicht für das Land, sondern nur für die Stadt. Wir glaubten sogar, dass wir nicht das Recht hätten, mit unseren unreinen und schmutzigen Händen das Buch mit dem weißen und reinen Papier anfassen zu dürfen. Es herrschte geradezu eine Angst vor dem Lesen, das sei nichts für uns, als ob es etwas absolut Verbotenes wäre“. „Gott hat uns ausgesandt, mit den Bedürftigsten zu arbeiten, das ist unsere Mission“. „Das Beispiel von Jesu in Nazareth verpflichtet uns, seine Botschaft zu verkünden - auch wenn die selbst ernannten Frommen vor Wut außer sich geraten und uns in den Abgrund stürzen wollen“.[2]

 

Über Jahrhunderte hinweg, seit dem 16. November 1532, als in Cajamarca der spanische Priester Valverde in der Begleitung von Francisco Pizarro dem letzten Inca Atahualpa die Bibel mit den Worten überreichte, dass sich die Indios von nun an den neuen Herren und ihrem Gott zu unterwerfen hätten und die Europäer dies dann auch mit Gewalt durchsetzten, war die Stimme der Indios zum Schweigen gebracht worden. Ihre Kultur und Religion, ihre Traditionen und Lebensformen wurden zerstört. Die Mehrheit der Bevölkerung wurde auch physisch ausgerottet. Nach verschiedenen Volkszählungen aus dem 17. Jh. überlebten nur zwischen 1/6 bis 1/10 der ursprünglichen Bevölkerung in den Anden die ersten 150 Jahre der Eroberung.[3] Den Überlebenden wurde das Recht, ein Volk und eigenständige Menschen zu sein, verwehrt. Auch im Zeitalter der Demokratie wird der Mehrheit der Bevölkerung systematisch und systembedingt ein ausreichender Zugang zu Bildung, Krankenversorgung und gesunder Ernährung verwehrt. Und in den letzten Jahren geht die Tendenz dahin, dass die Campesinos noch nicht einmal als potenzielle Konsumenten gebraucht werden. In der neuen Welt des entfesselten Marktes sind sie entweder schlicht überflüssig oder werden als bloßer Störfaktor wahrgenommen (einige postmoderne Intellektuelle sprechen ihnen aber immer noch folkloristisches Potenzial zu, das es zu schützen und zu pflegen gilt).

Im Selbstverständnis der überlebenden Nachfahren der ursprünglichen Bevölkerung ist es von fundamentaler Bedeutung, eine Stimme zu haben und ihre Stimme erheben zu können. Dies ist für sie ein Zeichen ihrer Existenz als Volk und als Menschen. Ihre Stimme erheben heißt in ihrem eigenen Sprachgebrauch, sich nicht mit dem Unrecht und der Gewalt abfinden, sondern ihre Rechte als Menschen einfordern. Es bedeutet für sie ein Stück Menschwerdung. Den höchsten Ausdruck, den die Campesinos dafür gebrauchen ist: „Somos gente“ (Wir sind Leute, Menschen, wir sind wieder wer). Sie verbinden damit implizit Begriffe wie Menschenwürde, Gleichheit und Grundrechte für alle Menschen. Wenn sie ihre Stimme erheben, bedeutet es für sie auch, ihre Wurzeln als andine Menschen neu zu entdecken und ihre Zukunft als solche selbst gestalten zu wollen. Die Campesinos von Bambamarca haben ihre Stimme erhoben. Spätestens seit 1962, als Bischof Dammert und seine Mitarbeiter sich mit den Campesinos zusammen auf den Weg gemacht haben, haben die Campesinos ihre Sprache wiedergefunden und sich selbst als Menschen und Volk neu entdeckt.



[1] Anlässlich des Besuches von Johannes Paul II. 1986 in Peru schrieben ihm im Vorfeld peruanische Indios: „Wir Indios der Anden und Amerikas haben beschlossen, den Besuch von Johannes Paul II zu nutzen, um ihm seine Bibel zurückzugeben, denn sie hat uns in fünf Jahrhunderten weder Liebe noch Frieden noch Gerechtigkeit gebracht. Nehmen Sie bitte ihre Bibel wieder und geben Sie die Bibel unseren Unterdrückern zurück, denn diese bedürfen ihrer Moralvorschriften mehr als wir“. Dies hätten die Campesinos von Bambamarca auch so sagen können, doch sie geben die Bibel nicht zurück, sondern nehmen die Bibel „in ihre Mitte“ um sie nun mit ihren eigenen Augen zu entdecken und zu deuten.

[2] Juan Medcalf war der Gründer der Bibliotecas rurales (im Sammelband zu dieser Studie werden in einem eigenen Artikel die Landbibliotheken beschrieben). Er arbeitete mehr als zehn Jahre in der Diözese Cajamarca, von 1973-1975 war er in Bambamarca. Dort hatten die Landbibliotheken ihren Ursprung und von dort aus verbreiteten sie sich über die gesamte Diözese. Diese Bewegung ist bis heute neben der Ronda diejenige  Errungenschaft einer befreienden Pastoral, die unbeschadet und in voller Stärke ihre ursprüngliche Linie fortsetzen kann. Juan Medcalf  besuchte 1999 Cajamarca und anlässlich des Besuches (und als Dank und Ehrung) wurde eine Versammlung der Delegierten einberufen. Ich wurde zu diesem Treffen und dem Gottesdienst eigens eingeladen, es waren auch bekannte Katecheten aus Bambamarca gekommen. Juan Medcalf wollte Bischof Simón einen Höflichkeitsbesuch abstatten, doch wurde er vom Bischof nicht empfangen.

[3] Die bisher umfangreichsten Studien zur ursprünglichen Bevölkerungszahl in Peru werden von G. Gutiérrez in „Gott oder das Gold“ zitiert (S. 10, a.a.O.). Danach lebten in Peru vor der Eroberung etwa neun Millionen Menschen. 1570 war die Bevölkerung auf eine Million geschrumpft. Noch gravierender war das Ausmaß dieser Katastrophe in Mexiko, wo die Bevölkerung von 25 Millionen auf eine Million (1605) dezimiert wurde (T. Todorov, Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, Frankfurt 1985, S. 161. G. Gutiérrez nennt die hauptsächlichen Gründe: „Man weiß um die drei Gründe für den Rückgang der Bevölkerung: Krankheiten, gegen welche die Indianer nicht immunisiert waren (wie z.B. Pocken, Masern und Typhus), Kriege und Zwangsarbeit. Doch handelt es sich dabei nicht um voneinander unabhängige, sondern um sich wechselseitig verstärkende Faktoren“ (a.a.O., S. 11). Ich möchte noch einen wichtigen Grund hinzufügen: die Zerstörung der Landwirtschaft, der Lebensgrundlage der Völker.