Die Kirche von
Bambamarca
An dieser Stelle wird eine vorläufige theologische
Bilanz versucht. Dabei wird - nur formal - zwischen einer Theologie
unterschieden, die direkt von den Glaubenserfahrungen der Campesinos ausgeht
und die sich in ihrem Leben als tragfähig bewahrheitet hat und einer Theologie,
die in einem zweiten Schritt als Reflexion über eine befreiende Praxis
entstanden ist.
Das Glaubensbekenntnis der
Campesinos
Die Kirche von Bambamarca hat nach ihrem eigenen
Selbstverständnis keine Theologie entwickelt und sie würde daher ihre
inhaltlichen Aussagen nicht „Theologie“ nennen. Ihre Aussagen verstehen sich
vielmehr als Glaubensbekenntnisse. Der griechisch-europäische Begriff „Theologie“
trifft nicht das, was die Campesinos meinen. Der Begriff lässt sich nicht in
die andine Welt übersetzen, aus zwei Gründen: der griechisch-europäische
Gottesbegriff drückt etwas anderes aus, als das, was die Campesinos unter Gott
verstehen, erleben und erfahren; zum anderen ist es in den Anden nicht der
Logos, von dem her ein Zugang zur Wirklichkeit, die immer auch eine göttliche
Wirklichkeit ist, gewonnen werden kann, sondern das Fest, die Riten und vor
allem die gelebte Erfahrung innerhalb der Comunidad. Das „Wort Gottes hören“
bedeutet hier, sich seiner Verpflichtung gegenüber der Comunidad, der Natur,
dem Kosmos und sich seiner Stellung (Standort) und Verantwortung innerhalb
dieses Netzwerkes bewusst zu werden bzw. sie neu und christlich zu interpretieren:
als Berufung von Gott, dem Vater und Ursprung aller Menschen. Diese ursprünglich
andine Sicht steht nicht im Gegensatz zu der neuen Glaubenspraxis in
Bambamarca, sondern vertieft diese.
Der theologische Inhalt wurde den Campesinos nicht
als Theorie vorgegeben, allerdings wurden ihnen gewisse „Werkzeuge“ in die Hand
gegeben, mit deren Hilfe sie das Wort Gottes, die Botschaft Jesu, entdecken und
dann deuten konnten.[1]
Sie deuten das Wort Gottes auf dem Hintergrund ihrer eigenen Geschichte, ihrer
Erfahrungen und ihrer konkreten Situation und entdecken dabei Parallelen in der
Bibel und in der Praxis des Volkes Gottes. Diese Deutung wird in dieser Arbeit
als Theologie verstanden - auch deswegen, um auf der Basis einer gemeinsamen
theologischen Sprache einen Dialog zu führen. Die folgenden Inhalte sind nicht
im Sinne einer theologischen Systematik zu sehen. Sie wurden direkt aus der
Begegnung mit den Campesinos und deren Glauben heraus entwickelt und formuliert.
Sie geben daher das wieder, was für die Campesinos der Inhalt ihres Glaubens
ausmacht. Es geht um die Glaubensinhalte, die für die Campesinos Grundlage und
Horizont ihres eigenen Glaubensverständnisses und der damit verbundenen Praxis
stehen:
Ausgangspunkt für die Kirche von Bambamarca ist die
Erfahrung der Menschwerdung Gottes in einer täglich erlittenen Realität von
Ungerechtigkeit und Ausgrenzung. Die grundlegende Entdeckung der Campesinos
ist, dass Gott mitten unter ihnen geboren wurde. Er schenkt neues Leben, er
offenbart sich als ein Gott des Lebens, als dessen Kinder sie sich erfahren.
Als Kinder Gottes haben sie eine einzigartige Würde und unantastbare Rechte.
Sie haben Hunger nach Gott und nach Brot und dieser Hunger wird nun ansatzweise
und zeichenhaft gestillt. Dies ermöglicht ihnen, ihre seit dem Schock der
Eroberung unerklärliche Abhängigkeit von den Weißen neu zu deuten: als Bruch
der ursprünglichen Harmonie, unter der sie selbst, die gesamte Wirklichkeit und
auch alle göttlichen Kräfte leiden. Die Botschaft Jesu ermöglicht ein neues
Leben in allen seinen Dimensionen. Dieses neue Leben beginnt jetzt, hier und heute.
Jesus ist für sie „die Brücke zwischen Himmel und Erde“. Der Glaube an Jesus
und an seine bleibende Gegenwart inmitten der Armen befähigt sie zu einer
befreienden Praxis. Aufgrund ihres Glaubens setzen sie sich für eine gerechtere
Gesellschaft ein. Dieser Einsatz kann zu Verfolgung führen, erst recht, wenn
sie die herrschenden Mächte und die herrschende Religion als falsche Götter
entlarven. Doch Jesus ist als Christus mit ihnen und deswegen geht ihr Weg
weiter. Diese Wegegemeinschaft ist die Kirche Jesu Christi. Ihr Glaube findet
in der gemeinsamen Feier der Tisch- und Mahlgemeinschaft als Zeichen des
Reiches Gottes seinen Höhepunkt und dichteste Ausdrucksform - andin: eine
Wiederherstellung der kosmischen Ordnung, in der alle Elemente des Kosmos in
einem ausgewogenen Verhältnis und einer gegenseitigen Beziehung leben. Diese
Feier bezieht ihre zentrale Bedeutung nicht daher, ob ein geweihter Priester
oder ein Katechet die Feier leitet. Sie hat deshalb eine zentrale Bedeutung,
weil eine Gemeinschaft in der Praxis des Brot teilen die Gegenwart Gottes
erfährt und von daher die Kraft empfängt, Leben und Welt zu verändern. In der
Feier selbst ist die gesamte Wirklichkeit bzw. das, was sie bezeichnet, auch
tatsächlich enthalten und präsent. Die Erfahrungen des Volkes Israels mit ihrem
Gott, der sie aus der Sklaverei befreite, die Erfahrungen der ersten Christen
mit dem auferstandenen Christus und viele Zeugnisse engagierter Männer und
Frauen, die ihr Leben hingaben, damit andere in Würde leben können, begleiten
sie auf ihrem Weg und geben ihnen Halt und Orientierung. Es ist ein Weg, den
schon andere vor ihnen gegangen sind und die ihnen nun als Brücke zur Gegenwart
den Weg weisen. Auf diesem Weg werden sie zum Volk Gottes. Als Volk Gottes, auf
dem Weg aus der Sklaverei in das Gelobte Land, repräsentieren sie die Gemeinschaft
derer, die an Jesus den Christus glauben. Sie sind daher die Kirche Jesu
Christi. Sie können sich eine Verwirklichung ihres Glaubens nur in Gemeinschaft
vorstellen bzw. indem sie sich für die Gemeinschaft einsetzen. Diese
Glaubensgemeinschaft ist durch das Hören des Wortes Gottes entstanden und
verwirklicht sich in der Nachfolge Jesu, z.B. so mit einander umzugehen, wie es
Jesus vorgelebt hat. Angesicht ihrer konkreten Situation ist es zentrale
Aufgabe dieser Glaubensgemeinschaft, gegen die herrschende Gewalt und für eine
Gesellschaft, in der alle Kinder Gottes ein Leben in Fülle haben werden, zu
kämpfen. So überwinden sie die tödliche Spaltung der Menschheit und sind so als
Kirche Jesu ein Sakrament des Heils für alle Menschen. Sie sind Zeugen der
Auferstehung und stehen in der Tradition der Apostel und der ersten Christen.
Sie haben am eigenen Leib erlebt, was es heißt, wenn durch völlige Missachtung
grundlegender Prinzipien die göttliche Ordnung gestört ist. Die zweite
Evangelisierung hilft ihnen dabei, diese Ordnung wieder als eine Heil volle und
Sinn stiftende Ordnung zu erfahren.
Theologie in
Bambamarca und in Deutschland
Wenn nun unterschiedliche Theologien verglichen werden,
dann ist dies auf den ersten Blick ein unzulässiger Vergleich. Denn es wird
eher zwischen einer Glaubenspraxis und einer wissenschaftlichen Disziplin
verglichen. Wenn hier trotzdem (aus europäischer Sicht) von einer Theologie in
Vamos Caminando oder der Theologie der Kirche von Bambamarca gesprochen wird
dann deshalb, weil die Campesinos über ihre Glaubenserfahrungen in reflektierter
Form berichten. Sie können ihren Glauben und ihre Praxis zu begründen. Zudem kennen
sie sehr gut die entsprechenden kirchlichen Dokumente und vergleichen damit
ihre Praxis.
Es ist müßig, in Vamos Caminando explizite Begründungen für theologische Aussagen oder solche theologische Fragestellungen zu suchen, die offensichtlich vor allem theologisch gebildete Leser bei uns bewegt. Ein Beispiel: das Brot teilen, die Eucharistie, hat für die Campesinos immer sowohl eine ganz konkrete Bedeutung - die Campesinos teilen wirklich das, was sie zum Leben brauchen - als auch eine sakramentale, zeichenhafte und ekklesiologische (Gemeinschaft stiftende) Dimension. Und alles zusammen hat sein Fundament in Jesus Christus, der mitten unter ihnen geboren wurde, mit ihnen lebt und leidet („kämpft und sich hingibt“ - in der Sprache der Campesinos), mit ihnen aufersteht und so zum Brot für alle wird. Er ist der Sohn Gottes, weil er Leben schenkt. Die Eucharistie ist für die Campesinos die kondensierte Form einer Praxis, in der das schon erwähnte Gleichnis vom Festmahl als Grundlage und Leitvision praktischen Handelns dient.[2] Wenn die Menschen sich an einen Tisch setzen und geschwisterlich Essen und Trinken teilen, werden das Reich Gottes zeichenhaft sichtbar und das endgültige Hochzeitsmahl vorweggenommen. Die Gewissheit der Verheißung und die Erfahrung der Gegenwart Gottes im Vollzug des Brot teilen gibt den Campesinos die Kraft, ihr Leben in den Dienst des Reiches Gottes und seiner Gerechtigkeit zu stellen.
In Bambamarca war es nicht notwendig, über die
soziale Dimension des Glaubens und die Einheit von Sozial und Pastoral zu
theoretisieren oder einen erst mühsam zu begründeten Zusammenhang zwischen
Theorie und Praxis, zwischen Mystik und Politik, Spiritualität und gesellschaftliches
Engagement und zwischen Befreiung und Erlösung herzustellen. Alle diese
rationalen Verkomplizierungen gehen am realen Glauben der Campesinos und der
Armen vorbei. Sie sind eher ein Symptom dafür, dass man in den reichen Kirchen
die Mitte und damit die Orientierung verloren hat. Das heißt nicht, dass man
sich nicht mit diesen Fragestellungen beschäftigen könnte, sondern vielmehr,
dass diese von außen heran getragenen Fragestellungen, Konzepte und Begrifflichkeiten
wenig hilfreich sind, um einen Zugang zu den Glaubenserfahrungen der Campesinos
und zum Evangelium insgesamt zu finden. Wenn dieser Zugang möglicherweise für Außenstehende
schwerer ist, so ist dies nicht das Problem der Campesinos, sondern das Problem
der Außenstehenden, die vielleicht nicht den Vorzug erleben durften, Kreuz und
Auferstehung existentiell erfahren zu haben. Deshalb fällt es ihnen schwerer,
sich mit den Armen wirklich an einen Tisch zu setzen und mit ihnen das Brot und
ihren Hunger nach Gerechtigkeit zu teilen, um so Christus erkennen zu können.
Es bleibt offen, ob die strukturelle Schwierigkeit der Außenstehenden, die
geschilderten Glaubenserfahrungen zu verstehen, nicht die Frage aufwerfen muss,
ob es nicht für sie noch viel schwieriger ist, das Evangelium angemessen zu
verstehen, das räumlich, zeitlich und vor allem in einem inneren Sinne noch
weiter weg ist, als es die Campesinos sind. Denn von der Geschichte des
versklavten Volkes Gottes her gesehen haben die reichen Kirchen eher ihren
Standort bei denen, die als Herrscher dieser Welt die Mehrheit der Menschen in
Schuldknechtschaft und Abhängigkeit halten. Die Campesinos dagegen verstehen
die Verkündigung von der Menschwerdung Gottes in ihrer Mitte, indem sie
anfangen, an „einem Neuen Himmel und einer Neuen Erde“ zu arbeiten. Und sie tun
dies, weil es ihnen verheißen ist.
Am Beispiel von Vamos Caminando werden einige
grundsätzliche Unterschiede zwischen der Theologie der Campesinos und der
Theologie Europas deutlich. Der erste Unterschied besteht schon darin, dass die
Campesinos keine eigene Theologie als Disziplin entwickeln, so wie das in
Europa geschehen ist. Das bedeutet nicht, dass die Glaubenserfahrungen und die
Praxis nicht reflektiert werden - sei es von den Campesinos selbst oder von
außen. Dies ist aber dann der zweite Schritt und ist nicht das Wesentliche.
Dieser zweite Schritt kann aber eine notwendige Brücke sein, um in einen
konstruktiven Dialog einzutreten. Die Unterschiede lassen sich an folgenden
markanten Punkten festmachen:
·
Der jeweilige Standort ist verschieden. Innerhalb der globalen
Wirtschaft seit Beginn der Neuzeit kommt den Campesinos die Rolle der Objekte
und der Opfer zu, die Europäer sind die Subjekte und die Nutznießer ungerechter
globaler Strukturen. Die europäische Kirche und Theologie ist im Rahmen dieser
Rollenverteilung zu sehen (muss aber nicht notwendigerweise darauf fixiert
sein, denn Ausbrüche sind möglich).
·
Der verschiedene Standort bedingt einen verschiedenen Zugang zur
Realität und zum Glauben. Entsprechend verschieden ist die Deutung im Lichte
des Glaubens. In Europa wird der eigene Standort nicht hinreichend analysiert
oder er wird ganz ausgeklammert. Für die Campesinos ist dagegen die Analyse und
Deutung des eigenen Standorts der Ausgangspunkt zur Veränderung. Es geht darum,
die Realität zu verändern. Dies führt zu einer konkreten Option und einer
befreienden Praxis. Es gibt keine neutrale Erkenntnis.
·
Für die Campesinos ist die Frage „Glaube oder Unglaube“ nicht
entscheidend. Es geht für sie nicht um die Frage der Existenz Gottes, sondern
darum, die herrschenden Götzen zu entlarven. Die europäische Theologie setzt
sich zuerst mit dem Atheismus auseinander und diese Auseinandersetzung ist bis
heute geprägt von antimarxistischen Reflexen.
·
Die Glaubenspraxis, z.B. Einsatz für Gerechtigkeit, Reich Gottes, ist
für die Campesinos wahrer Gottesdienst und Gotteserkenntnis. Der europäischen
Theologie fällt es schwer, ausgehend von eigenen befreienden Erfahrungen zu
einer entsprechenden Praxis zu finden und diese dann zu reflektieren.
Stattdessen (meta-) reflektiert sie ihre eigenen Konstrukte.
·
Die Menschwerdung Gottes und seine Auferstehung stehen bei den
Campesinos im Zentrum des Glaubens. Dies verändert ihr Leben. In Europa hat der
historische Jesus zuerst seine Bedeutung als Forschungsobjekt. Der Christus des
Glaubens ist für die Campesinos identisch mit dem historischen Jesus. Die
europäische Theologie findet einen Zugang zu Christus eher mit Hilfe von Dogmen
und Hoheitstiteln, Christus wird „definiert“.
·
Der historische Jesus fordert zur Nachfolge auf. In der Nachfolge
werden Passion und Auferstehung Jesu real erfahrbar. Die Nachfolge erfolgt in
Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft versteht sich von Jesus Christus als Zentrum
her und nicht zuerst als Institution wie in Europa. Europäische Glaubenspraxis
scheint sich daher eher an Kult und Gesetz zu orientieren und weniger am
Beispiel Jesu und den Bedürfnissen der Menschen.
Fazit
Bei allen Unterschieden zur europäisch -
wissenschaftlichen Theologie, kann und muss die Theologie der Campesinos von
auch europäischen Kriterien her als echte Theologie bezeichnet werden. Denn sie
erfüllt die grundlegenden Voraussetzungen für Theologie, wie sie Karl Rahner
formuliert hat, nämlich „Theologie ist
‚Glaubenswissenschaft’ (genauer: Wissenschaft des christlichen Glaubens), d.h.
das reflektierende, methodisch geleitete Erhellen und Entfalten der im Glauben
erfassten und angenommenen Offenbarung Gottes.[3] Die
Campesinos haben das Wort Gottes gehört (Offenbarung), auf ihre eigene
Situation bezogen, diese im Lichte der Offenbarung analysiert und gedeutet und
die entsprechenden Methoden entwickelt, um diese Situation mit Hilfe des Wortes
Gottes zu verändern.
Die
Theologie der Campesinos und die Theologie der Befreiung
Es geht hier nicht um eine Gegenüberstellung, denn
wesentliche inhaltliche Unterschiede lassen sich kaum feststellen.[4]
Das Glaubensbekenntnis der Campesinos wird „übersetzt“ und in einen größeren
Gesamtrahmen hineingestellt, der später gelegentlich als Theologie der Befreiung
bezeichnet wurde. Die Theologie der Campesinos weist aber auf einige Schwächen
der Theologie der Befreiung (soweit sie als wissenschaftliche Theologie
verstanden wird) hin. Es soll daher auf zwei Gefahren in der peruanischen
Theologie der Befreiung hingewiesen werden, wie sie sich im konkreten Alltag
der Campesinos als solche herausgestellt haben: die Gefahr der Praxisferne und
die weniger als bei den Campesinos entwickelte Ekklesiologie (und mitunter auch
Christologie).
Die Theologie der Befreiung wurde von Theologen
entwickelt, die ihren Lebensmittelpunkt eher in der theologischen Lehre im
klassischen Sinn haben und in Lateinamerika leben und lehren. Dabei ist auf
folgende Gefahr hinzuweisen: Lateinamerikanische Theologen wurden in Versuchung
geführt, sich angesichts einer Übermacht der europäischen Theologie viel Energie
darauf zu verwenden, der europäischen Theologie zu beweisen, dass sie selbst
sehr wohl in der Tradition der traditionellen Theologie stehen. Vor allem
meinte man, sich vor einigen europäischen Übervätern, angefangen von Barth über
Rahner bis zu Metz und Moltmann oder gar Ratzinger, rechtfertigen oder auch
abnabeln zu müssen. Diese Auseinandersetzung mit Europa hat die Theologie der
Befreiung etwas von ihrer Basis weggeführt und wurde für die Basis teils
unverständlich - vor allem die Auseinandersetzungen mit europäischen Theologen.
Die Theologie der Befreiung konnte damit leichter zum Spielball konkurrierender
theologischer Konzepte und Interessen werden. Von ihrer Herkunft und Ausbildung
her, mussten die Theologen der Befreiung die Armen erst entdecken und auch für
diese Theologen gilt, dass man nicht den zweiten Schritt machen kann, ohne den
ersten Schritt mit den Armen gegangen zu sein. Die Gefahr der Praxisferne ist
bei den peruanischen Befreiungstheologen sicher geringer als in anderen
lateinamerikanischen Ländern. Doch in den letzten Jahren ist diese Gefahr,
bedingt durch kirchenpolitische Entwicklungen in Peru, größer geworden. So ist
z.B. die Studie über die Pastoralarbeit in der Diözese Cajamarca im Rahmen der
Zusammenarbeit mit dem IBC in Lima die bisher letzte wissenschaftliche Arbeit
in Zusammenarbeit mit Basisgruppen. Bezeichnend ist, dass die Ergebnisse dieser
Studie, die Arbeit von Luis Mujica, noch nicht veröffentlicht werden konnten -
eher aus „politischen“ als aus finanziellen Gründen.
Die Theologie der Campesinos steht auf den beiden
Beinen Christologie und Ekklesiologie, auch wenn das von ihnen natürlich nicht
so genannt wird. In der lateinamerikanischen Theologie spielt dagegen zumindest
die Ekklesiologie nicht die Rolle, wie dies bei den Campesinos von Bambamarca
der Fall ist. Diese Schwäche könnte die Ursache dafür sein, dass angesichts der
aktuellen kirchenpolitischen Situation in Peru (Kardinal Cipriani) die
vormaligen Theologen der Befreiung im Umkreis von Gustavo Gutiérrez die Parole
ausgeben, zumindest die nächsten zehn Jahre möglichst „unbeschadet zu überwintern“
(so wörtlich im Gespräch mit mir), weil man jetzt angesichts der
kirchenpolitischen Machtverhältnisse doch nichts ausrichten könne. Daher sei
auch jede Provokation zu vermeiden. Die kirchliche Struktur wird nicht
hinterfragt - in persönlicher Betroffenheit schon, aber nicht theologisch und öffentlich.
Vor allem die Hintergründe der Ernennung von Erzbischof Cipriani zum Kardinal
von Lima werden nicht hinterfragt oder gar öffentlich aufgedeckt, ebenso wenig
die Rolle des Nuntius und der Kurie und deren Verknüpfungen mit politischen
Systemen.
Zehn Thesen
zur Theologie der Befreiung (ausgehend
von Bambamarca)
Ausgehend von den Erfahrungen der Campesinos und in
Anlehnung an Schlüsselbegriffe der Theologie der Befreiung lässt sich diese
Theologie in zehn Thesen plakativ und in Stichworten formulieren - ohne den
Anspruch, alle Bereiche der klassischen Theologie mit einbeziehen zu können und
zu wollen. Es folgen nun die wesentlichen Inhalte einer Theologie der Befreiung,
wie sie sich von der Praxis und dem Selbstverständnis der Campesinos her
ableiten lassen. Die ersten fünf Thesen beziehen sich auf Jesus Christus, die
nächsten fünf Thesen auf die Kirche als die Gemeinschaft der
Christus-Gläubigen.
1. Die Geburt Jesu: Option
Gottes für die Armen, er steht auf ihrer Seite, Gott als Befreier, als Retter.
Die biblischen Verheißungen nehmen - praktisch erfahrbar - Gestalt an.
2. Die Botschaft vom Reich
Gottes: Im Zentrum der Botschaft Jesu stehen Umkehr und Nachfolge. Diese Umkehr
zeigt sich in einem radikal veränderten konkreten Verhalten.
3. Zeichen des Reiches Gottes
sind: Tischgemeinschaft mit Verachteten, den Indios, Sündenvergebung
(Neubeginn), Krankenheilungen (integral), Austreibung der Dämonen, etc.
4. Leiden und Tod Jesu: Der Tod
Jesu als Konsequenz seines Glaubens und seiner Botschaft und als Reaktion der
Mächtigen. Indem Jesus seinen Weg zu Ende ging, hat er neue Wege für andere
aufgezeigt und die göttliche Harmonie wieder hergestellt.
5. Auferstehung: Der Gott des
Lebens bestätigt Jesus als Messias gegen die todbringenden Götzen und er
durchbricht den Teufelskreis von Unterdrückung und Herrschaft. Auferstehung ist
in diesem Leben erfahrbar („österliche Existenz“).
6. Die Erfahrung und Praxis der
Befreiung (Exodus) ist konstitutiv für das Volk Gottes: die Campesinos als Volk
Gottes auf dem Weg aus der Sklaverei in das Gelobte Land, im Einsatz für einen
„neuen Himmel und eine neue Erde“ (Gerechtigkeit).
7. Wie die Propheten klagen sie
im Auftrag und im Namen Gottes die Herrscher an, stürzen die Götzen und
verkünden den Gott des Lebens und den Anbruch einer neuen Zeit. Mit Maria, als
Mutter Jesu und aller Menschen, kommt Befreiung in die Welt.
8. In der Nachfolge Jesu leben
sie in Gemeinschaft, teilen das Brot und verkünden und bezeugen damit die
Auferstehung Jesu. Dieser Jesus wird für sie zum Christus, zum Brot des Lebens.
In der Feier wird die Einheit mit allen Menschen und Gott real erfahrbar.
9. Die befreiende Erfahrung
einer christlichen Gemeinschaft (Kirche der Befreiung) in den Comunidades wird
bestärkt durch das Zeugnis einzelner Bischöfe, den Dokumenten von Medellín u.a.
Sie teilen ihre Erfahrungen mit den Partnern auf der anderen Seite des Globus.
Dadurch entsteht die weltweite Gemeinde der Jünger Jesu - die katholische
Kirche.
10. Wir sind Kirche, weil wir
das Wort und das Brot teilen. Jesus Christus ist gegenwärtig und er begleitet
uns. Wir sind gemeinsam auf dem Weg und laden dazu alle ein!
Die
Grundfunktionen der Kirche Jesu Christi [5]
Die Praxis der Kirche von Bambamarca wird als Kirchenbildung im Sinne der Apostelgeschichte verstanden. In der Kirche von Bambamarca lassen sich exemplarisch die Grundfunktionen der Kirche Jesu nach Apg 2, 41 - 47 aufzeigen: Gemeinschaft und Zeugnis des Glaubens - Mahlgemeinschaft, Feier des Glaubens - Dienst am Mitmenschen. Die Kirche von Bambamarca steht demnach in der Tradition der Zeugen der Auferstehung. Von Europa und damit vom Standort einer reichen Kirche aus, lässt sich hier wie in einem Brennglas betrachten, wie, warum und mit welchem „Zweck“ Kirche entstanden ist. Dies kann sowohl helfen, den Prozess der Kirchenbildung vor 2000 Jahren besser zu verstehen als auch helfen, Kriterien und Prioritäten für eine erneuerte Kirche weltweit und speziell in Deutschland zu finden. Ein Blick auf Bambamarca und viele andere ähnliche Beispiele weltweit bringt uns die Zeit und das Anliegen Jesu näher. Es ist - eine entsprechende Spiritualität vorausgesetzt - ein Blick auf die Quellen des Christentums und die Ursprünge der Kirche. Dies klingt verständlicherweise hierzulande wie eine ungeheuerliche, auf jeden Fall aber unzulässige Anmaßung bzw. Vereinnahmung historisch einmaliger Vorkommnisse. Ungeachtet dessen ist daran festzuhalten, dass die Campesinos von Bambamarca dies so erlebt und gedeutet haben. Zudem sollte bedacht werden, was dieser Aufbruch für die Menschen in Bambamarca bedeutet hat, was er ihnen gebracht hat und welche Früchte im Vergleich dazu eine wissenschaftlich und wirtschaftlich abgesicherte Kirche und Theologie, verbunden mit einer davon abgeleiteten Pastoral, getragen haben. Nimmt man die schon oft genannten Kriterien der Botschaft Jesu, einer glaubwürdigen Gemeinschaft (Kirche, Gemeinde) und einer gerechteren Gesellschaft (Option für die Armen) hinzu, braucht die Praxis und die Verkündigung von Bambamarca keinen Vergleich zu scheuen. Die Orthodoxie einer Lehre erweist sich in der Praxis, insbesondere im Zugewinn von Leben für diejenigen, die ansonsten vom Leben ausgeschlossen werden. Dies ist in Bambamarca geschehen.
Die Grundfunktionen der Gemeinschaft der Jünger Jesu (nach Apg 2, 41 - 47), die sich in Bambamarca als praktikabel und befreiend erwiesen haben, können wie folgt dargestellt werden, wobei die drei Grundfunktionen nicht eindeutig voneinander abgegrenzt werden können:
· Die Erfahrungen der Campesinos mit der Bibel führen zu einem neuen Verständnis von Gemeinschaft, zu dem Aufbau von neuen Gemeinschaften, die im gemeinsamen Glauben lernen, das Brot miteinander zu teilen. Im Angesicht der Zeichen der Zeit stellen sich diese Gemeinschaften den Herausforderungen ihrer Wirklichkeit, die von Ungerechtigkeit und Gewalt geprägt ist. Indem sie diese Gewalt und Ungerechtigkeit zu überwinden suchen, sind sie in dieser gespaltenen Welt und Kirche ein Zeichen der Einheit. Das ist das Bekennen ihres Glaubens. Ihr Kampf für Gerechtigkeit und Menschenwürde stiftet Kirche, eine Kirche die katholisch (universal) und evangelisch (Bibel als Grundlage) ist.
·
Durch ihr Engagement in der Gemeinschaft und der Mitarbeit in den
verschiedenen Aktivitäten der Gemeinde verkünden die Campesinos die Botschaft
Jesu. Sie feiern den Anbruch des Reiches Gottes durch Jesus in ihren
Gottesdiensten und Versammlungen. Diese sind als Feier des Lebens, des Todes
und der Auferstehung Jesu Christi auf eine gesellschaftliche Praxis
ausgerichtet, die im Dienste des Reiches Gottes und seiner Gerechtigkeit steht.
Diese Liturgie fasst in verdichteter Form den Alltag und das Engagement der
Menschen zusammen und stiftet zugleich an, diesen Alltag mit immer wieder neuer
Kraft zu gestalten und notfalls zu verändern. Diese Art der Verkündigung und
der Liturgie sind nur auf dem Hintergrund einer bereits getroffenen Option der
Opfer für eine gerechtere Welt (das Reich Gottes) zu verstehen. Dieses Brot
teilen als Eucharistiefeier ist das Fundament der Kirche, der christlichen
Gemeinschaft, lokal und global.
·
Der Einsatz für ein Leben in Fülle und Würde für alle Menschen ist als
Diakonie sowohl Voraussetzung als auch Folge von Kirchesein und Verkündigung
der Botschaft Jesu. Diakonie erwächst aus der Mitte des Glaubens und der
Gemeinde. Eine solche Diakonie strebt auch immer eine Veränderung der
Verhältnisse an, damit nicht nur dem unter die Räuber Gefallenen geholfen
werden kann. Sie setzt sich für Strukturen ein, innerhalb derer das Volk Gottes
nicht mehr unter die Räuber fällt bzw. die den Weg in das Gelobte Land nicht
versperren. Die Kirche ist das konkretes Zeichen des „neuen Himmels und der
Neuen Erde“ (Reich Gottes) inmitten dieser Welt, so wie sie ist.
[1] Das grundlegende Werkzeug war die Bibel als Buch, das ihnen nun zugänglich war. Dazu kommt, dass ihnen eine Infrastruktur, einschließlich bereitwilliger Priester und Mitarbeiter, zur Verfügung gestellt wurde.
[2] Eine Unterscheidung zischen einer Eucharistiefeier mit oder ohne Priester wird hier nicht angestellt - erst recht nicht wegen dem erwähnten andinen Verständnis der Feier. Sie stellt sich aus einer konkreten Praxis heraus nicht, selbst wenn die Präsenz eines Priesters von den Campesinos gewünscht und begrüßt wird. Dennoch erweist sich eine solche Frage als zweitrangig, denn für die Campesinos steht das, was durch die Eucharistiefeier ausgedrückt und real dargestellt werden soll, im Mittelpunkt. Eine solche Unterscheidung entspricht zudem nicht der Praxis Jesu und den Erfahrungen der ersten Christen und christlicher Basisgruppen, die aus der Situation heraus feiern und die Gegenwart Gottes erleben, wenn sie das Brot miteinander teilen. Dieses Bedürfnis hat oberste Priorität. Die Frage nach Amt und Weihe ist dem untergeordnet. Wird diese jedoch zur obersten Norm erhoben, wird die Masse der Gläubigen de facto ausgegrenzt bzw. ihr wird das Wichtigste vorenthalten, das die Kirche nach eigenem Selbstverständnis zu bieten hat und letztlich ihr Wesen ausmacht: die sakramentale Einheit der Menschen untereinander und mit Gott. Die Kirche stellt sich dadurch selbst in Frage. Lehramtliche Fixierungen bedeuten zudem, Gott selbst vorschreiben zu wollen, unter welchen Bedingungen er wann und mit wem sich an den Tisch setzen darf. Die Art der Behandlung dieses Themas durch die römischen Behörden zeigt, dass es letztlich um die Rolle des Priesters geht (um Macht) und danach erst um die Bedürfnisse des Volkes Gottes.
[3] Rahner, Karl: Theologie. In: Herders Theologisches Taschenlexikon, Band 7. S. 238.
[4] Einige formale Unterschiede wurden schon benannt, so die unterschiedlichen Vorstellungen über Basisgemeinden. Außerdem ist es selbstverständlich, dass die Kirche in Nicaragua, im Amazonasgebiet, in Uruguay oder in den Anden ihre jeweils spezifischen Schwerpunkte hat und die Theologen davon beeinflusst sind.
[5] Weil für die Campesinos Kirchenbildung („formar iglesia“) und das Leben in Gemeinschaft von entscheidender Bedeutung sind und dies für die aktuelle Situation sowohl in der Kirche von Bambamarca, in den Partnerschaften und weltweit eine Rolle spielt, wird dieser Punkt noch einmal eigens hervorgehoben.