Wem gehört Bolivien?

Die Welt sollte die Tatsache feiern, dass Bolivien einen demokratisch gewählten Führer bekommen hat, der sich bemüht, die Interessen der Ärmsten seines Landes zu vertreten.

Ein Kommentar von Joseph E. Stiglitz.  Joseph E. Stiglitz ist Nobelpreisträger für Ökonomie und Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Columbia University. Er war Vorsitzender des Rates der Wirtschaftsberater unter Präsident Clinton und Chefökonom und Senior Vice President der Weltbank.

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Evo Morales wurde im Dezember als erster Indio in Bolivien in demokratischen Wahlen zum Staatsoberhaupt bestimmt. Indigene Gruppen machen 62 Prozent der Bevölkerung Boliviens aus, Mischlinge weitere 30 Prozent, aber seit 500 Jahren wurden die Bolivianer von Kolonialmächten und ihren Abkömmlingen beherrscht. Die Wahl von Morales war daher ein historisches Ereignis, und die Aufregung in Bolivien ist mit Händen zu greifen.

Die Verstaatlichung der bolivianischen Öl- und Gasfelder jedoch hat Schockwellen durch die internationale Gemeinschaft schlagen lassen. Während seines Wahlkampfes hatte Morales seine Absicht zur Ausweitung der staatlichen Kontrolle über die nationalen Gas- und Ölvorkommen deutlich gemacht.

Aber er hatte gleichermaßen klar zu erkennen gegeben, dass er nicht beabsichtigte, das Eigentum der Energieunternehmen zu beschlagnahmen - er wollte die ausländischen Investoren im Land halten. (Natürlich bedeutet eine Verstaatlichung nicht zwangsläufig die Beschlagnahme ohne angemessene Entschädigung.)

Vielleicht ist es für moderne Politiker überraschend, aber Morales meinte, was er sagte. Ihm geht es ernsthaft darum, die Einkommen der Ärmsten zu steigern, und ihm war klar, dass Bolivien auf die Expertise der Ausländer angewiesen ist, um sein Wirtschaftswachstum zu steigern - und dies erfordert, sie für ihre Leistungen fair zu bezahlen. Aber bekommen die Ausländer mehr, als ihnen fairerweise zusteht?

Morales' Maßnahmen werden von einem großen Teil der Bolivianer unterstützt, die die so genannten Privatisierungen (oder "Kapitalisierungen") unter dem früheren Präsidenten Gonzalo "Goni "Sánchez de Lozada als Betrug empfanden: Bolivien erhielt lediglich 18 Prozent der Einnahmen. Die Bolivianer fragen sich, warum Investitionen von etwa drei Milliarden Dollar den ausländischen Investoren ein Recht auf 82 Prozent der enormen Gasreserven des Landes geben sollten, deren Wert inzwischen auf 250 Milliarden Dollar geschätzt wird.

Die Bolivianer fragen sich, warum die Ausländer in den Genuss aller Vorteile kommen. Die Öl- oder Gasförderung kostet heute nicht mehr als damals, als die Preise nur ein Drittel ihres gegenwärtigen Standes betrugen. Trotzdem erhalten die ausländischen Ölgesellschaften 82 Prozent dieses Anstiegs - im Falle des Öls würde dies einen Mitnahmeeffekt von 32 Dollar pro Barrel für sie bedeuten.

Kein Wunder also, dass die Bolivianer das Gefühl hatten, übers Ohr gehauen worden zu sein. Für die meisten Bolivianer geht es hierbei um eine Frage der Fairness: Sollten die ausländischen Öl- und Gasgesellschaften eine angemessene Kapitalrendite oder eine deutlich über dem Normalen liegende Rendite erzielen? Sollte Bolivien einen angemessenen Preis für seine Ressourcen erhalten? Und wer sollte den größten Teil der Gewinne aus dem Anstieg der Energiepreise erhalten?

Wenn die Bolivianer keinen fairen Wert für den natürlichen Reichtum ihres Landes erhalten, sieht es um ihre Zukunft schlecht aus. Und selbst wenn sie ihn bekommen, brauchen sie Hilfe - nicht nur bei der Förderung ihrer Ressourcen, sondern auch, um die Gesundheit und die Bildung aller Bolivianer zu verbessern und ein langfristiges Wirtschaftswachstum und Gesellschaftswohl zu gewährleisten.

Was den Augenblick angeht, sollte die Welt die Tatsache feiern, dass Bolivien einen demokratisch gewählten Führer bekommen hat, der sich bemüht, die Interessen der Ärmsten seines Landes zu vertreten. Es ist ein historischer Moment.

 

(DER STANDARD, Printausgabe, 1.7.2006)