Der Schweizer Soziologe und
UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler, ruft zum
Aufstand gegen die Weltherrschaft der Konzerne auf und plädiert für eine
Auflösung von WTO und IWF.
Herr Professor Ziegler, in Ihrem neuen Buch
"Das Imperium der Schande" sprechen Sie von einer Refeudalisierung
der Welt. Was meinen Sie damit?
In den letzten Jahrzehnten sind auf der Erde unglaubliche Reichtümer
entstanden, der Welthandel hat sich in den letzten 12 Jahren mehr als
verdreifacht, das Welt-Bruttosozialprodukt fast verdoppelt. Zum ersten Mal in
der Geschichte der Menschheit ist der objektive Mangel besiegt und die Utopie
des gemeinsamen Glückes wäre materiell möglich. Und gerade jetzt findet eine brutale,
massive Refeudalisierung statt. Die neuen
Kolonialherren, die multinationalen Konzerne - ich nenne sie Kosmokraten - eignen sich die Reichtümer der Welt an. Diese
neue Feudalherrschaft ist 1000 Mal brutaler als die aristokratische zu Zeiten
der Französischen Revolution.
Wie funktioniert diese Feudalherrschaft im 21. Jahrhundert?
Die Legitimationstheorie der Konzerne ist der Konsensus von Washington. Danach
muss weltweit eine vollständige Liberalisierung stattfinden: Alle Güter, alles
Kapital und die Dienstleistungsströme in jedem Lebensbereich müssen vollständig
privatisiert werden. Nach diesem Konsensus gibt es keine öffentlichen Güter wie
Wasser. Auch die Gene der Menschen, der Tiere und Pflanzen werden in Besitz
genommen und patentiert. Alles wird dem Prinzip der Profitmaximierung
unterworfen. Dabei setzen die Konzerne zwei Massenvernichtungswaffen ein, den
Hunger und die Verschuldung. Das Resultat ist absolut fürchterlich. Die
Hungerzahlen steigen in absoluten Zahlen immer weiter an. Letztes Jahr sind
nach dem Welternährungsbericht jeden Tag 100.000 Menschen an Hunger oder seinen
unmittelbaren Folgen gestorben, alle 5 Sekunden ist ein Kind unter 10 Jahren
verhungert. Und dies, obwohl die Weltlandwirtschaft schon heute - ohne
Gentechnik, etc. - problemlos 12 Milliarden Menschen ernähren könnte, wie
derselbe Bericht feststellt. D.h., es gibt keinerlei Fatalität für die
Massenzerstörung der Welt. Ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermordet.
Was muss passieren, um diese mörderische Entwicklung zu stoppen?
Zuerst muss die theoretische Legitimation dieses Systems, der Konsensus von
Washington, die Ökonomisierung der Natur, diese Wahnidee muss zerstört werden.
Dann muss der Aufstand des Gewissens, ein Sozialaufstand, gegen die kosmokratische Minderheit, die die Welt beherrscht,
organisiert und durchgesetzt werden. Denn diese kannibalische Weltordnung von
heute ist das Ende sämtlicher Werte und Institutionen der Aufklärung, unter
denen wir bisher gelebt haben, das Ende der Grundwerte, der Menschenrechte.
Entweder wird die strukturelle Gewalt der Konzerne gebrochen. Oder die
Demokratie, diese Zivilisation, wie sie heute in den 111 Artikeln der
UNO-Charta oder im Deutschen Grundgesetz fixiert ist, ist vorbei und der
Dschungel kommt. Es ist eine Existenzfrage.
Sie plädieren also für einen weltweiten Aufstand gegen die Macht der
Konzerne. Sehen Sie dafür Ansätze?
Es gibt heute drei historische Kräfte, die zu mobilisieren sind: Die Utopie,
die Scham und die Schande. Die Utopie, dass die Schaffung des gemeinsamen
Glücks heute möglich ist. Die Scham, die eine Mutter in Nordostbrasilien
empfindet, wenn sie Steine kocht, damit ihre Kinder beim Kochgeräusch
einschlafen können, obwohl es wieder nichts zu essen gibt. Und die Schande, die
wir empfinden, wenn wir mit ansehen müssen, wie Menschen gefoltert werden oder
verhungern. Diese Macht der Schande muss mobilisiert werden bei uns, die wir
die stillen Komplizen dieser mörderischen Weltordnung sind.
Können Sie ein Beispiel für die Macht der Schande nennen?*
Aus Nordkorea fliehen immer mehr Menschen vor dem Hungertod, dem seit 17
Jahren schon 12% der Bevölkerung zum Opfer gefallen sind, ins benachbarte
China. Seit 2002 macht die chinesische Geheimpolizei Jagd auf diese
Hungerflüchtlinge und schiebt sie nach Pjöngjang ab. Dort werden die Männer
meist erschossen, die Kinder und Frauen verschwinden in Konzentrationslagern.
Als ich dies 2003 in meinem Bericht vor den Vereinten Nationen schildern
wollte, kam zwei Minuten vor Beginn der Rede der chinesische Botschafter auf
Knien zu meinem Platz auf der Tribüne, damit man ihn vom Saal aus nicht sieht.
Er beschwor mich aufgeregt, diesen Punkt auf meiner Redeliste nicht zu
erwähnen. Das ist die Macht der Schande. Ich habe natürlich trotzdem geredet.
Seitdem sind Reisen nach China für mich nicht mehr empfehlenswert.
Wie wollen die Vereinten Nationen erreichen, dass Konzerne weltweit
die Menschenrechte einhalten?*
Dazu gibt es sehr unterschiedliche Ansätze, unter anderem den Global Compact,
der auf Freiwilligkeit setzt und von dem ich nicht viel halte. Dagegen finde
ich die verbindlichen UN-Normen für Unternehmen, die die Unterkommission des
Menschenrechtsausschusses ausgearbeitet hat, ausgezeichnet. Hier sollte die
Zivilgesellschaft und gerade auch die deutschen NGOs,
aber auch der deutsche Botschafter, Druck machen, damit diese Normen jetzt auch
umgesetzt werden. Viel versprechend finde ich auch den Beschluss der 61.
Sitzung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen: Von jetzt an
sollen Menschenrechte - die zivilen und politischen ebenso wie die sozialen,
ökologischen und kulturellen - nicht nur für den Staat gelten, sondern auch für
das neue historische Subjekt, die nichtstaatlichen Akteure, die multinationalen
Konzerne. Wenn diese Resolution Völkerrecht wird, dann hätte die Bundesrepublik
Deutschland eine so genannte internationale Menschenrechtsobligation. Sie wäre
verantwortlich dafür, dass Konzerne, die ihr Hauptquartier auf deutschem
Territorium haben, die Menschenrechte weltweit respektieren. Das ist technisch
ohne weiteres durchführbar. Es könnte beispielsweise ohne großen Aufwand ein
Inspektorenkorps in Berlin geschaffen werden, das die Einhaltung der
Menschenrechte bei deutschen Konzernen im Ausland nachprüft und Sanktionen
verhängt, wenn Verletzungen vorliegen.
Was kann der Einzelne tun? Kann er dazu beitragen, die strukturelle
Gewalt der Konzerne zu brechen?
Wer in einer Demokratie lebt, insbesondere einer westlichen, kann alles tun, um
diese mörderische Weltordnung zu brechen. Ein Beispiel: Die Schuldknechtschaft
der Dritten Welt, d.h. die Strukturanpassungsprogramme, etc., wird verwaltet
vom IWF, dem Internationalen Währungsfonds. Bei den halbjährlichen
Generalversammlungen des IWF in Washington ist auch der deutsche Finanzminister
dabei. Er hat großen Einfluss, denn Deutschland ist die drittgrößte
Wirtschaftsmacht des Planeten. Brasilien hat nach der Statistik der Regierung
44 Millionen schwerst permanent unterernährte
Menschen, knapp ein Viertel der Einwohner, obwohl es ein reiches Land ist. Aber
aus 18 Jahren Militärdiktatur und von fünf neoliberalen Präsidenten hat der
jetzige Präsident Lula, von dem ich sehr viel halte,
einen Berg von Auslandsschulden von 242 Milliarden Dollar geerbt. Diese
Auslandsschulden verschlingen einen großen Teil der mit Exporten gewonnenen
Devisen. Damit hat er objektiv keine Möglichkeit, sein Programm "Fome Zero" gegen den Hunger im Land zu finanzieren.
Seit zwei Jahren versucht er deswegen mit dem IWF über ein Moratorium der
Schulden zu verhandeln und stößt dabei auf eine Betonwand. Die deutsche
Öffentlichkeit, die Presse, die Parlamentarischen Institutionen, jeder Bürger
mit seinem Wahlzettel könnte dem deutschen Finanzminister sagen: Wir wollen,
dass Du beim IWF für das Schuldenmoratorium Brasiliens stimmst, weil wir nicht
wollen, dass brasilianische Kinder weiter an schwerster Unterernährung leiden.
Das geht! In der Demokratie sind die Mittel vorhanden, um diese Weltordnung
umzustoßen und die Menschenrechte durchzusetzen.
Welche Rolle spielen die Welthandelsorganisation WTO und der IWF in
dieser Ordnung?
Leider sind WTO und IWF die zwei entscheidenden Organisationen für die
Nord-Süd-Beziehungen, die UN haben da nicht viel mitzureden. Bei beiden wird
der neoliberale Konsensus von Washington dogmatisch durchgesetzt. Beide sind
willige Helfer der Kosmokraten, sie müssen aufgelöst
werden.
Sie glauben auch nicht, dass WTO, und IWF reformierbar wären?
Nein, das sind Menschen zerstörende Organisationen. Menschen sterben jeden Tag
wegen dieser Politik. Im Niger beispielsweise stehen heute 3,6 Millionen
Menschen am Abgrund. Der IWF hat die Bildung von Lebensmittelreserven letztes
Jahr verhindert. Er hat dafür gesorgt, dass das größte Transportunternehmen des
Landes privatisiert wird, ebenso wie das nationale Veterinäramt. Jetzt gibt es
keine Impfstoffe mehr für das Vieh. Und jetzt hat der IWF auch noch verboten,
dass Hirse gratis verteilt wird, auch von der UNO oder von NGOs,
weil dies Markt verzerrend sei. Das ist eine absolut mörderische Politik.
Wie sollte der Welthandel Ihrer Meinung nach geregelt werden?
Ich bin für gerechte Welthandelsregeln, die die Interessen beider Partner
in jeder Phase berücksichtigen: frei ausgehandelt, ohne Zwang, nach den
Prinzipien von Fairness und Transparenz. Das ist bei der WTO nicht der Fall:
Die EU, USA, Kanada, Australien und Japan diktieren den Verhandlungsprozess.
Sie haben eine totale Erpressungsmacht, weil sie 81% des Welthandels
kontrollieren. Und sie können Mehrheitsentscheidungen blockieren, da alle
Entscheidungen nur einstimmig von allen WTO-Mitgliedern getroffen werden. Diese
so genannte Konsensregel ist eine reine Lüge: Sie nützt den Reichen, die einen
Konsens mit wirtschaftlichen Versprechungen oder Drohungen erzwingen können.
Zudem haben viele ärmere Länder gar nicht die Möglichkeit, an den langwierigen
Verhandlungen ständig teilzunehmen - oft sind sie über wichtige Entscheidungen
nicht informiert. Beispielsweise haben 18 afrikanische Länder gar keine
Botschaft bei der WTO in Genf, weil sie es sich nicht leisten können. Ich bin
für Welthandelsregeln, aber nicht für diese. Das sind diskriminierende, intransparente Erpressungsmechanismen.
Was gäbe es für Alternativen zur WTO?
Ein wichtiges Gegengewicht zur WTO ist schon jetzt die UNCTAD (UN-Konferenz für
Handel und Entwicklung), sie arbeitet viel mit der Zivilgesellschaft zusammen.
Eine neue Organisation zur Regelung des Welthandels sollte auf jeden Fall unter
dem Dach der UNO angesiedelt werden, was ja bei der WTO nicht der Fall ist.
Was erwarten Sie vom WTO-Gipfel in Hongkong?
Nicht viel. Wenn die Positionen der Industrieländer vom WTO-Gipfel 2003 in Cancun sich nicht verändern, dann wird es kein Abkommen
geben. Ein Streitpunkt wird wieder die Baumwolle sein. Bush wird die 600
amerikanischen Baumwollproduzenten weiter mit 5 Milliarden Dollar jährlich
subventionieren. Die Baumwollpreise werden zusammenbrechen. Es wird darüber
diskutiert, den fünf westafrikanischen Ländern, die völlig von der
Baumwollproduktion abhängig sind - Burkina Faso, Benin, Mali, Niger, Senegal -
deswegen finanzielle Kompensationen zu zahlen. Das wäre ein Bruch mit der
reinen Marktlogik der WTO, zum ersten Mal hätte eine normative Dimension
eingesetzt.
Die USA sind wegen der Baumwollsubventionen von der WTO verurteilt
worden. Gibt es keine Sanktionsmöglichkeiten?
Ja, aber sie sind nicht effektiv. Kleine Länder wie Burkina Faso oder Senegal
haben keine Chance. Sie könnten zwar bei einer Verurteilung der USA ein
Importstopp für amerikanische Baumwolle verhängen, aber das würde die
Amerikaner nicht stören. Würden dagegen die USA ein Importstopp für Baumwolle
aus Westafrika verhängen, wäre das der Ruin für die Region. Das ist eines der
vielen Probleme der WTO, dass in der Realität nur die großen Länder effektive
Sanktionen durchsetzen können.
Viele Menschen aus dem armen Teil der Welt versuchen in eine der
Wohlstandsoasen wie die Europäische Union zu gelangen. Was kann die EU da tun?
Die EU müsste dringend ihre Export- und Produktionssubventionen in der
Landwirtschaft abschaffen. Alle Industrieländer zusammen haben letztes Jahr für
Produktions- und Exportsubventionen landwirtschaftlicher Güter 349 Milliarden
US-Dollar ausgegeben - fast 1 Milliarde Dollar am Tag! Die Zerstörung der
lokalen Märkte in Entwicklungsländern durch Billigexporte aus der EU ist ein
schon lange bekannter Skandal. Auf dem Markt in Dakar im Senegal können Sie
europäisches Gemüse aus Frankreich, Portugal oder Spanien zu einem Drittel des
einheimischen Preises kaufen. Die senegalesischen Bauern rackern sich 16
Stunden unter brennender Sonne ab. Auf dem Markt entdecken sie dann das
Dumpinggemüse der EU. Sie haben keine Chance.
Es gibt Menschen, die sagen, dass alles wüssten wir doch schon seit
Jahren, und es ändere sich trotzdem nichts.
Das stimmt nicht, das Bewusstsein weltweit steigt. Auch in der WTO selber
haben die Kritik und die Forschungsarbeit von Organisationen wie Germanwatch Wirkung gezeigt. Es kommen Zweifel auf. Beim
WTO-Gipfel in Cancun hat eine neue, erfolgreiche
Symbiose stattgefunden zwischen Zivilgesellschaft und den Delegationen der
Entwicklungsländer. Pascal Lamy, der Generaldirektor der WTO, hat dies gemerkt
und sucht jetzt den direkten Dialog mit den NGOs. Die
Zivilgesellschaft ist stark in Deutschland und der Welt.
Interviews aus der Germanwatch-Zeitung 4/2005