Freiheit nach Börsenmaß  von Günther Grass

Die Politik ist machtlos gegen die Ökonomie. Das gefährdet die deutsche Demokratie

……Das Parlament entscheidet nicht souverän. Es ist von den mächtigen Wirtschaftsverbänden, den Banken und Konzernen abhängig, die keiner demokratischen Kontrolle unterliegen. So macht sich der Gesetzgeber zum Gespött. So missrät das Parlament zur Filiale der Börse. So unterwirft sich die Demokratie dem Diktat des global flüchtigen Kapitals. Wen wundert es, wenn sich mehr und mehr Bürger empört, angewidert, schließlich resigniert von solch offen zutage tretenden Machenschaften abwenden, den Wahlgang als bloße Farce werten und auf ihr Wahlrecht verzichten? Vonnöten wäre der demokratische Wille, den Bundestag vor dem Andrang der Lobbyisten durch eine Bannmeile zu schützen. Doch sind unsere Parlamentarier noch frei genug für einen Entschluss, der radikaldemokratischen Zwang ausüben müsste?

Wiederum stellt sich die Frage: Was ist aus der uns vor sechzig Jahren geschenkten Freiheit geworden, zahlt sie sich nur noch als Börsengewinn aus? Unser höchstes Verfassungsgut schützt nicht mit Vorrang die bürgerlichen Rechte, ist vielmehr zu Niedrigpreisen verschleudert worden, auf dass es, dem neoliberalen Zeitgeist genehm, vor allem der sich »frei« nennenden Marktwirtschaft dienlich wird. Doch dieser zum Fetisch gewordene Schummelbegriff verdeckt nur mühsam das asoziale Verhalten der Banken, Industrieverbände und Börsenspekulanten. Wir alle sind Zeugen, wenn weltweit Kapital vernichtet wird, wenn so genannte feindliche und freundliche Übernahmen Tausende Arbeitsplätze vernichten, wenn die bloße Ankündigung von Rationalisierungsmaßnahmen als Entlassung von Arbeitern und Angestellten die Kurse steigen lässt und dies reflexhaft als hinzunehmender Preis für »das Leben in Freiheit« gewertet wird. Die Folgen dieser als Globalisierung verkleideten Entwicklung treten deutlich zutage, sind an Statistiken abzulesen. Mit der seit Jahren konstant hohen Zahl von Arbeitslosen, die nun bei fünf Millionen liegt, und der gleichfalls konstanten Weigerung der Unternehmer, trotz nachweislich hoher Renditen, besonders im Exportbereich, neue Arbeitsplätze zu schaffen, hat sich die Hoffnung auf Vollbeschäftigung verflüchtigt. Ältere Arbeitnehmer, die durchaus noch leistungsfähig wären, werden in die Frührente abgeschoben. Jungen Menschen bleibt der gelernte Einstieg ins Arbeitsleben verwehrt. Schlimmer noch: Bei gleichzeitigem Gejammer über drohende Vergreisung und papageienhaft wiederholten Forderungen, mehr für Jugend und Bildung zu tun, leistet sich die Bundesrepublik einen Zuwachs von beschämendem Ausmaß, »Kinderarmut« genannt.

All das wird mittlerweile, als sei es gottgewollt, hingenommen. Fragen nach der Verantwortung geraten schnurstracks auf den zentral liegenden Verschiebebahnhof. Dort werden sie mal auf dieses, mal auf jenes Abstellgleis rangiert. Doch die Zukunft von mehr als einer Million Kindern, die in verarmten Familien aufwachsen, bleibt weiterhin verhängt. Wer auf diesen Missstand und auf weitere ins soziale Abseits gedrängte Menschen hinweist, wird von alerten Jungjournalisten günstigstenfalls als »Sozialromantiker« verspottet, in der Regel jedoch als »Gutmensch« diffamiert. Fragen nach den Gründen für die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich werden als »Neiddebatte« abgetan. Das Verlangen nach Gerechtigkeit wird als Utopie verlacht. Der Begriff Solidarität findet sich nur noch in der Rubrik Fremdwörter. Bei aller Beschwörung einer gewiss erstrebenswerten Zivilgesellschaft formiert sich in der Bundesrepublik Deutschland die längst überwunden geglaubte Klassengesellschaft. Nicht mehr zu vermuten, festzustellen ist: Was als neoliberal plakatiert wird, erweist sich, genau besehen, als Rückgriff auf die menschenverachtende Praxis des Frühkapitalismus. Und die soziale Marktwirtschaft – einst ein Erfolgsmodell wirtschaftlichen und solidarischen Handelns – degeneriert zur freien Marktwirtschaft, der die verfassungsgemäße Sozialverpflichtung des Eigentums lästig und das Streben nach Rendite sakrosankt ist.

Vielleicht zu spät erkennen wir, dass nicht Rechtsradikale den Staat bedrohen, vielmehr ist es die Ohnmacht der Politik, der zufolge sich die Bürger schutzlos dem Diktat der Ökonomie ausgesetzt sehen. Immer häufiger werden Arbeiter und Angestellte von Konzernen erpresst. Nicht der Bundestag, sondern die Pharmaindustrie und die von ihr abhängigen Verbände der Ärzte und Apotheker entscheiden darüber, wem die Gesundheitsreform nützlich, aus ihrer Sicht gewinnbringend zu sein hat. Anstelle der Sozialverpflichtung des Eigentums gibt sich Profitmaximierung als Grundwert aus. Die frei gewählten Parlamentarier fügen sich dem landesinneren wie dem globalen Druck des Großkapitals. So richtet man zwar nicht den Staat – der hält viel aus –, wohl aber die Demokratie zugrunde. Als selbstbewusste Demokraten sollten wir der Macht des Kapitals, für die der Mensch nur produzierendes und konsumierendes Material ist, souverän widerstehen. Wer die geschenkte Freiheit gleich einem Börsengewinn verrechnet, hat nicht begriffen, was uns Jahr nach Jahr der 8. Mai lehrt.

„Die Zeit“, 04. 05. 05 (Anlass: „60 Jahre Befreiung“ am 8. Mai)