Der österreichische
Dokumentarfilmer Erwin Wagenhofer über den Irrsinn
der Nahrungsmittelpreise, über den Hunger in agrarreichen Ländern und die
Gewöhnung ans Glück
Der
Dokumentarfilm We feed the world - Essen global schildert, wie Konzerne und
Großindustrie unsere Ernährung steuern, wie Massenviehzucht, ausufernde
Subventionen und Monokulturen für viele Menschen weltweit immer mehr zu einem
Ernährungsproblem werden: Tag für Tag wird in Wien genauso viel Brot vernichtet
wie Graz verbraucht. Auf rund 350.000 Hektar (vor allem in Südamerika) werden
Sojabohnen für die europäische Viehwirtschaft angebaut, daneben hungert ein
Viertel der einheimischen Bevölkerung. Jeder Europäer isst jährlich zehn Kilo
künstlich bewässertes Treibhausgemüse aus Südspanien, dadurch werden vor Ort
die Wasserreserven knapp. We feed the world - Essen global ist ein Film über Ernährung und
Globalisierung, Fischer und Bauern, Fernfahrer und Konzernlenker, Warenströme
und Geldflüsse - ein Film über den Mangel im Überfluss.
FREITAG: Herr Wagenhofer, hatten sie eine Art
Urerlebnis in puncto Ernährung oder sehen Sie "We feed the world"
als Angriff auf die Globalisierung?
ERWIN WAGENHOFER: Eine Initialzündung gab es nicht. Aber ich definiere mich als
politischer Mensch. Unsere augenblickliche Situation hat ja nichts speziell mit
Globalisierung zu tun, denn die Globalisierung ist uralt, mindestens so alt wie
Kolumbus. Allerdings tritt sie jetzt in eine spezielle Umbruchphase. Und diese
beinhaltet immer auch große Unsicherheiten. Es ist möglich, dass wir Freiheiten
verlieren, die sich die Menschen über Jahrhunderte erkämpft haben. Und dem gilt
mein Interesse. Ich wollte einen Film machen über den Zustand unserer
Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Und das Thema Nahrung betrifft
jeden. Vieles, was ich zeige, ist bekannt. Aber das ist auch ein Problem der
Demokratie: Jeder darf alles schreiben und sagen. Ich wollte aber ganz bewusst
keinen Film machen über Schweinereien, sondern mich haben nur Sache interessiert,
die im legalen Rahmen geschehen.
Treten Sie für eine Regionalisierung der Ernährung ein?
Jeden Tag werden Lebensmittel zu aberwitzigen Preisen angeboten. Beim Fleisch
ist es am extremsten. Wenn es aber so wenig kosten darf, muss die Landwirtschaft
es so herstellen, wie es im Film gezeigt wird. Das ist der Grund, warum die so
rationalisieren. Mit dem Argument, man könne sich die Lebensmittel sonst nicht
leisten. Wenn Sie aber Ihren Lebensstil ändern, wenn Sie langsamer essen,
Regionales essen, meinetwegen etwas Biologisches, dann kommen Sie in einen
anderen Lebensrhythmus, geben weniger Geld aus, sind schneller satt und auch
zufriedener. Aber diese Freiheit verlieren wir immer mehr. Noch ein Beispiel:
Auch Menschen, die wenig Geld haben, kaufen sich Designer-Joghurts, 125 ml.
Wenn Sie das hochrechnen auf einen Liter, kommen Sie zu absurd hohen Preisen.
Sie essen gepresste Kartoffelstäbchen, das heißt dann Pringles
oder so, da kosten die Kartoffeln dann 12 Euro das Kilo. Also am Geld kann es
nicht liegen.
"We feed the world" handelt von Europa, Afrika und Südamerika. Aber
Asien wird nicht beleuchtet. Warum?
Die Globalisierung stand nicht im Vordergrund. Mir ging es darum, was das alles
mit uns zu tun hat. Nach Brasilien sind wir gegangen, weil wir praktisch den
Regenwald auffressen: Zuerst werden unsere Tiere mit den dort gezüchteten
Sojabohnen gefüttert, dann essen wir die Tiere. Und in Brasilien, einem extrem
reichen Agrarland, hungern 44 Millionen Menschen, das sind 25 Prozent der
Bevölkerung! Das hat mich interessiert. Nicht das, was man aus dem Fernsehen
kennt: Sahelzone, Niger, Dürre, Heuschrecken, Krieg, Korruption etc. Klar, dass
dort Menschen verhungern. Aber es ist der kleinere Teil der 842 Millionen, die
weltweit hungern. Die meisten hungern dort, wo es genug gibt.
Sie haben einige Entscheidungsträger der Konzerne interviewt. Da ist zum
einen Karl Otrok, der Hybridsamen für "Pioneer Hi-Bred International" in Rumänien verkauft. Der gibt
offen zu, dass ihm die traditionell angebauten Landwirtschaftsgüter viel besser
schmecken, als die mit Hybridsamen gezüchteten. War es schwer, von dem Mann ein
solches Statement zu bekommen?
Nein, aber es war schwierig, so jemanden zu finden. Auch Otrok
fragte mich zuvor, wann denn der Film herauskäme. Und dann war klar, dass er zu
dem Zeitpunkt schon in Pension ist. (Lachen) Und dennoch ist er der einzige,
der wirklich geschädigt wurde. Denn er ist zwar in Rente. Aber er ist Maschinenbauer
und hat sich eine Saatgutmaschinen-Firma in Rumänien aufgebaut. Und am Tag nach
der Uraufführung in Toronto beim Film-Festival - dort hat wohl jemand von der
Firma gesessen - ging eine Email um die Welt: "No business
with Karl Otrok!"
Wohin führt die Entwicklung, dass wir uns immer mehr in der Hand von
Konzernen befinden?
Die Entwicklung führt dorthin, wohin wir wollen. Das ist der Grund, warum der
Film "We feed the world" heißt und nicht "They
feed the world". Wir
alle sind für dieses System mitverantwortlich. Mir ist klar, dass ein Film
nichts verändern kann. Aber er kann etwas aufzeigen. Verändern müssen sich die
Leute, wenn sie das wollen. Es gibt ja inzwischen auch eine Menge Sachbücher
zum Thema und eine enorme Unzufriedenheit mit diesem System. Ich selbst bin
weder optimistisch noch pessimistisch, ich bin "possibilitistisch".
Ich glaube, dass eine Veränderung möglich ist. Das beginnt mit ganz einfachen
Sachen: Wir entscheiden, was wir kaufen. Und wir müssen Druck auf die Politik
ausüben, damit sie für uns und nicht für die Konzerne entscheidet.
Schwierig bei einem System, in dem sich ständig regionale, nationale und
europäische Interessen konträr gegenüber stehen.
Ja. Schauen Sie, wir in Österreich leisten uns das teuerste politische System
auf der ganzen Welt. Dieses winzige Land hat eine Bundesregierung, neun Landesregierungen,
ich weiß nicht wie viele Bezirkshauptmannschaften. Wir haben so viele Beamte
wie zur Zeit der Monarchie, als wir 35 Millionen Menschen waren! Wir leisten
uns so ein sündhaft teures System, und dann arbeiten die für die Konzerne,
indem sie deren Interessen durch Gesetze unterstützen.
Ist Umweltbewusstsein nicht auch eine Frage des Preises? Die Discounter
bieten verführerisch billig ihre Produkte an.
Der Preis kann kein Argument sein, wenn die Menschen zugleich Produkte kaufen,
die extrem teuer sind. Aufklärung ist da ganz wichtig. Außerdem sieht man doch,
wie verkommen wir sind, wenn "Geiz geil ist". Verstehen Sie? Ich
meine, wenn jemand Geiz geil findet, dann muss das ein erotischer Flachwurzler sein. Wenn wir wollen, dann können wir etwas ändern:
In zehn Jahren könnten wir nur noch die Hälfte der Tomaten aus Spanien
beziehen, die Hälfte des Sojas aus Brasilien. Das
wäre doch schon was. Aber welcher Politiker denkt in Zehn-Jahres-Rhythmen? Die
denken in Legislaturperioden. Und kaum sind sie aus der Verantwortung, ist
ihnen alles egal. Zu unserer Filmpremiere in Wien kam auch Franz Fischler, der
ehemalige EU-Agrarkommissar. Der war zehn Jahre lang für den größten
Budget-Brocken in der EU verantwortlich. Jetzt ist er aus der Verantwortung raus,
kam nach der Premiere auf die Bühne und war plötzlich der EU-kritischste Mensch
und Globalisierungsgegner. Das ist ja das beste Zeichen dafür, dass das System
falsch ist.
Viele Menschen sehen die EU als abstraktes Gebilde, auf das sie keinen
Einfluss haben.
Die EU, das sind wir. Wir wählen diese Leute. Und wir können sie auch wieder
abwählen. Andererseits, wenn man sich mal umschaut im Freundeskreis: Ich kenne
keinen einzigen, der in die Politik gegangen ist. Irgendwie vollzieht sich da
eine Negativselektion ...
Eine politische Lösung sehen Sie also auch nicht?
Dennoch gehöre ich zu einer extrem glücklichen Generation. Mein Vater hat
gehungert, meine Mutter hat gehungert. Ich habe nie gehungert. Und trotzdem
sind wir nicht glücklich. Wir können mit dem Glück nicht umgehen. Das ist unser
Problem. Das müssen wir lernen. Und das ist eine Frage der Zeit. Das dauert
vielleicht drei Generationen. Das ist wie bei den Reichen. Wenn sie Menschen
kennen lernen, die wirklich reich sind, seit Generationen, dann stellen sie
fest, dass diese Leute sie keine Sekunde spüren lassen, dass sie reich sind.
Das ist für die überhaupt nicht wichtig. Aber wehe es kommt ein Neureicher. Der
muss ununterbrochen protzen. Vielleicht können wir in 200 Jahren mit dem Glück
umgehen.
Sehen Sie auf der politischen Bühne irgendwelche Hoffnungsschimmer?
Das ist eine schwierige Frage. Ich selbst würde mich eher der linken Ecke
zuordnen. Aber nichts ist enttäuschender als die Linke, wenn man sie ernst
nimmt. Und man ist immer enttäuscht vom eigenen Lager, das einem in den Rücken
fällt. Inzwischen vertraue ich vielmehr den Leuten, die noch ein Gespür haben
für Boden oder Handwerk. Von der intellektuellen Schicht bin ich enttäuscht.
Die Rumänen in ihren Film sind sehr zufrieden. Sollte man gegen den
EU-Beitritt Rumäniens sein, um ihnen diese Zufriedenheit zu erhalten?
Mir hat eine Frau nach einer Vorführung gesagt: "Ich bin nicht gegen die
EU. Mir sind diese Muster zu einfach. Ich glaube, das Leben ist ganz schön
kompliziert. Es ist eine Herausforderung." Darum bin auch kein Fan von
Michael Moore und seinen Filmen: Bush ist der Böse und er ist der Gute. Was für
eine Schwarz-Weiß-Malerei! Das Problem ist ja nicht der Bush, das Problem sind
die Leute, die den Bush wählen. Und da muss es ein Umdenken geben. Schauen sie
sich Italien an. Das ist doch absurd.
Gab es für Sie im Rahmen Ihrer Recherchen Überraschungen?
Am Erstaunlichsten waren für mich die gigantischen Ausmaße dieser Gewächshäuser
in Spanien. Das ist heftig. Und dann die Welt der Konzerne, diese Parallelwelt.
Wenn der Nestlé-Chef Peter Brabeck spricht, dann ist
das weder gut noch schlecht. Das ist seine Welt, die der Konzerne und der
Profitmaximierung, gesetzlich im legalen Rahmen. Wo dann so Absurditäten
entstehen, dass ein Mensch wie er im Jahr 20 Millionen Schweizer Franken
verdient. Das ist mehr als alle 25 EU-Regierungschefs zusammen. Diese eine Zahl
sagt schon, wer regiert. Wir reden von Freihandel und vom freien Markt, erleben
aber eine Monopolisierung der ärgsten Art. Wir haben erlebt, dass die
Planwirtschaften im Osten nicht besonders erfolgreich waren. Und jetzt sollen
die Planwirtschaften im Westen erfolgreich sein? Die 50 größten
Planwirtschaften sind jetzt die 50 größten Konzerne. Die wollen doch gar keinen
Markt, die beherrschen den Markt. Wenn der reichste Mann der Welt, Bill Gates,
90 Prozent der Computerwelt beherrscht, ist das dann Freihandel? Das stelle ich
mir aber anders vor.
Haben Sie Reaktionen von Nestlé zu ihrem Film erlebt?
Vor dem Start sind die wohl ein wenig nervös gewesen. Aber danach nichts mehr.
Ich glaube, das einzige, was denen in der Konzernzentrale ein bisschen Bauchweh
verursacht, ist, wenn die Umsatzzahlen um 0,02 Prozent zurückgehen. Alles
andere prallt ab.
Gibt es auch Entwicklungen, die Ihnen Mut machen?
Es gibt immer mehr Gruppen wie Attac, die sind ja
übergreifend in allen linken Lagern Zuhause. Oder "Fair Trade" zum
Beispiel kommt von den Kirchen. Die haben mit der Linken überhaupt nichts am
Hut. Also da gibt es Ansätze. Aber der größte Ansatz ist die Unzufriedenheit.
In Frankreich oder in Holland merkt man es. Die sagen "Nein!" das
wollen wir nicht. Allerdings wird die EU da am falschen Fuß getroffen. Mit der
Verfassung hat das gar nichts zu tun gehabt, diese Referenden. Aber es ist ein
Ausdruck der inneren Unzufriedenheit, die in uns allen liegt. Jeder kann sofort
beginnen. Und sei es nur indem er anderen davon erzählt. Das sind die kleinen
Schritte, die gemacht werden müssen. Aber die Leute, die zum Billigsten
greifen, die sind eben nicht aufgeklärt. Das ist ein Riesenproblem. Es sagt
ihnen auch niemand etwas. Die werden behandelt wie Konsumdeppen. Ich mag schon
nicht, wenn ich als Konsument bezeichnet werde. Ich will gar nichts
konsumieren. Ich will etwas benutzen. Das ist philosophisch ein ganz anderer
Zugang. Und zu diesem Umdenken muss man kommen. Wir können Dinge benutzen und
nach uns hoffentlich noch andere.
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