Alles auf Erden
findet in den Grenzen von Raum und Zeit statt. Auch der Kapitalismus hat einen
Anfang und folglich auch ein Ende. Der Kapitalismus ist historisch. Dies wird
jedoch keineswegs allgemein akzeptiert, im Gegenteil. Doch wo kein Ende ist,
bleibt der Anfang im Dunkel: Kapitalismus scheint heute zur inneren Natur der
Menschen zu gehören, so wie der Stoffwechsel mit der äußeren Natur, als wäre
Kapitalismus eine condition humaine. Geriete der Kapitalismus an Grenzen, hörte
der Metabolismus, der Stoffwechsel, auf. Das wäre das Ende der Menschheit, vielleicht
sogar des Lebens auf Erden.
Dieses Denkmuster ist
keine bloße Spekulation, es charakterisiert einen nach 1989 verbreiteten Diskurs.
Das „Ende der Geschichte“ sei erreicht, weil paradoxerweise die moderne
kapitalistische Gesellschaft mit ihren sozialen und politischen Institutionen
und Prozeduren (formale Demokratie, Markt, Pluralismus) und mit ihren Theorien
und Ideologien den Höhepunkt der sozialen Entwicklung des Menschengeschlechts
markiere. Sie scheint grenzenlos, ewig und daher geschichtslos zu sein. Eine
andere, nicht-kapitalistische Gesellschaft befindet sich außerhalb des Gesichtskreises
der Zeitgenossen: „There is no alternative“, lautet Margret Thatchers
gedankenlosester und zugleich berühmtester Spruch. Für immer Kapitalismus, weil
gesellschaftliche Alternativen keinen historischen Sinn machen. Wer angesichts
dieses weltweit vorherrschenden Diskurses das Ende des Kapitalismus dennoch für
möglich hält oder gar auf dessen Überwindung politisch hinarbeitet, gilt als
weltfremder Narr, der das Rad der Geschichte drehen möchte, obwohl es zum Stillstand
gekommen und seine Bewegung blockiert ist. Die Geschichte ist am Ende, die
„beste aller möglichen Welten“ ist Wirklichkeit geworden. Nun hilft nur noch
der Rekurs auf Leibniz und die Theodizee: Da die Welt insgesamt vom gütigen und
gerechten Gott geschaffen ist und die göttliche Weisheit nicht in Frage
gestellt werden kann, ist die Welt, in der wir leben, trotz der chaotischen
Verhältnisse, trotz des Bösen, die „beste aller möglichen Welten“. Kapitalismus
erhält, wie Walter Benjamin kritisierte, etwas Religiöses. Voltaire hat diesen
heroischen Fatalismus in seinem Roman „Candide“ schon im 18. Jahrhundert, im
vorrevolutionären Frankreich, persifliert. Heute hätte ein moderner Voltaire
viel mehr Anlass, sich über die Verhältnisse im globalisierten Kapitalismus und
über dessen dunkle Seiten, über Krieg und Elend, ökologische Zerstörung und
soziale Ungleichheit, über Terror und Krieg gegen den Terror, über Folter und
Geheimgefängnisse aufzuregen. Wenn die Geschichte weitergehen und die „beste
aller möglichen Welten“ politisch gestaltet werden soll, muss auch über das
Ende des Kapitalismus nachgedacht und müssen Alternativen entwickelt und
erprobt werden. Reden wir also über das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen.
Wie wir ihn kennen: Denn die Zukunft ist offen, und wir wissen nicht, welche
Gesellschaftsform diejenigen erstreiten, die einen Ausweg aus dem Kapitalismus,
wie wir ihn kennen, finden müssen.
Ich möchte im
Folgenden zunächst der Frage nachgehen, welche Eigenschaften den Kapitalismus
charakterisieren und wie die menschheitsgeschichtlich einmalige Dynamik seit
der industriellen Revolution zu erklären ist. Die Übereinstimmung von sozialer
Formation, Technik, Markt und fossilen Energieträgern, die seit der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts entstand, ist wesentlich dafür verantwortlich. Aber
ist diese Konstellation für immer gewährleistet? Der Historiker Fernand Braudel
gibt uns hier einen bedeutsamen Hinweis, wenn er schreibt: „Der Kapitalismus, davon
bin ich überzeugt, kann nicht durch einen ‚endogenen‘ Verfall zugrunde gehen;
nur ein äußerer Stoss von extremer Heftigkeit im Verein mit einer glaubwürdigen
Alternative könnte seinen Zusammenbruch bewirken“. Man wird sich also auf die
intellektuelle und zugleich ganz praktische Suche nach den äußeren Erschütterungen
und den im Inneren der Gesellschaft heranreifenden überzeugenden Alternativen
machen müssen. Allerdings erweitern wir das uns von Braudel aufgegebene
Programm um die Suche nach den im Inneren der Gesellschaften heranreifenden und
sich zuspitzenden Widersprüchen, die genauso wirksam die Grundlagen der
Stabilität der Entwicklung bedrohen können wie die äußeren Anstöße. Doch Fernand
Braudel hat Recht; für sich allein können innere Krisen kaum den Zusammenbruch
des Systems zur Folge haben. Die inneren Krisen - das sind heute die globalen
Finanzkrisen mit ihren ganze Kontinente erschütternden Wirkungen. Die äußeren
Anstöße - das sind die Grenzen der Verfügbarkeit fossiler Energieträger und die
aus ihrer Verbrennung resultierenden Klimafolgen. Interne Alternativen, das
sind gesellschaftliche Initiativen für erneuerbare Energien und für die Verwirklichung
solidarischer Wirtschaftsformen.
Kapitalismus ohne Ende?
Der Begriff
Kapitalismus taucht erstmals im 18. Jahrhundert auf, setzt sich allerdings erst
sehr viel später durch. Adam Smith und David Ricardo verwenden den Begriff
nicht, und auch im „Kapital“ von Marx findet man den Begriff nur ein einziges
Mal (im 2. Band, 4. Kapitel). Erst Werner Sombart führt den Kapitalismus-Begriff
in seiner epochalen Analyse der historischen Entwicklung vom „Vorkapitalismus“
über den „Frühkapitalismus“ zum „Hochkapitalismus“ ein. Im „Hochkapitalismus“
hat sich der Kapitalismus als System gegenüber anderen „Wirtschaftsstilen“ und
„Wirtschaftsgesinnungen“ durchgesetzt. Auch für Marx ist die kapitalistische
Produktionsweise bzw. Gesellschaftsformation historisch, sie sind aus anderen
Produktionsweisen - im westlichen Europa aus dem Feudalsystem - hervorgegangen,
und es werden andere folgen. Aber wie muss man sich das Ende vorstellen, bricht
der historische Kapitalismus zusammen? Auf diese Frage hat der schon zitierte
Fernand Braudel eine deutliche Antwort: Der „Kapitalismus als Struktur ist von
langer Dauer“, schreibt er, und „der Kapitalismus als System“ hat „alle
Aussichten“, auch die schwerste Krise zu überstehen, „ja es könne sogar sein,
dass er wirtschaftlich gestärkt aus ihr hervorgeht“. Kapitalismus also ohne
Ende? Sicher nicht, aber die Stabilität der modernen kapitalistischen Gesellschaften
darf nicht unterschätzt werden. Denn sie ist eine Folge der außerordentlichen
Dynamik kapitalistischer Gesellschaften, und diese kann sich so recht
entfalten, wie die fossilen Energien mit Hilfe der neuen Techniken der
industriellen Revolution die begrenzten biotischen Energien von Mensch und Tier
ergänzen und ersetzen. Denn die fossilen Energien - Kohle, Gas und vor allem Öl
- sind der kapitalistischen Produktionsweise höchst angemessen. Fossiles Energieregime
und soziale Formation des Kapitalismus passen nahtlos zusammen, und dies aus
mehreren Gründen. Erstens können fossile Energieträger anders als Wasserkraft
oder Windenergie weitgehend Orts unabhängig eingesetzt werden. Sie können von
den Lagerstätten relativ leicht zu den Verbrauchsorten gebracht werden, heute
mit Hilfe von Pipelines und Tankschiffen. Die ökonomische Geographie wird
weniger von natürlichen Gegebenheiten, als von der Kalkulation der Rentabilität
von Kapitalanlagen an verschiedenen und miteinander konkurrierenden Standorten
beeinflusst. Zweitens sind fossile Energieträger zeitunabhängig, da sie leicht
zu speichern sind und 24 Stunden am Tag, und dies über das ganze Jahr
unabhängig von den Jahreszeiten, genutzt werden können. Anders als die biotischen
Energien, die nur dezentral in zumeist kleinen Einheiten in nützliche Arbeit
umgesetzt werden können und in aller Regel nur dann, wenn die Sonne scheint,
erlauben die fossilen Energien Konzentration und Zentralisierung ökonomischer
Prozesse, wenn es das Rentabilitätskalkül sinnvoll erscheinen lässt. Die
fossilen Energieträger können jedes Größenwachstum mitmachen, also mit der
Akkumulation des Kapitals mitwachsen. Drittens besitzen fossile
Sekundärenergien, vor allem die Elektrizität und der Verbrennungsmotor, alle
Vorzüge der Mobilität, der Dezentralisierung, des flexiblen Einsatzes in allen
Lebenslagen und Arbeitsbereichen. Das reicht vom Kinderspielzeug, den Geräten
in einer modernen Küche und Hobby-Werkzeugen bis zum PC oder Baukran und
Geländewagen. Die Potentiale der Arbeit werden enorm gesteigert. Auch die
Lebensformen in den Haushalten ändern sich radikal. Das elektrische Licht kann
die Nacht zum Tag machen und daher soziale Rhythmen von den Naturgegebenheiten
und Biorhythmen loslösen. Auch die Wucht politischer Herrschaft kann gesteigert
werden, nicht zuletzt weil sich auch das Militär der Potenzen der fossilen (und
auch der nuklearen) Energieträger zur Steigerung der Destruktionskraft bedient.
Mit Hilfe von industrieller Technik, des Einsatzes fossiler Energien in der sozialen Organisation des Kapitalismus wird die Steigerung des „Wohlstands der Nationen“ in einem Ausmaß möglich wie niemals zuvor in der Menschheitsgeschichte. Nach Adam Smith ist dies eine Folge der Arbeitszerlegung in der Fabrik und der Arbeitsteilung in der Gesellschaft, gelenkt durch die „unsichtbare Hand“ des Marktes, heute erzwungen durch den globalen Wettbewerb. Denn der Kapitalismus ist von Anbeginn an ein - anfangs vor allem europäisch dominiertes - Weltsystem mit einer Dynamik, die heute als Globalisierung bezeichnet wird.
Fetisch Wachstum
Der
jahresdurchschnittliche Anstieg der Pro-Kopf-Einkommen verzehnfachte sich von
0,22 Prozent in der Zeit zwischen 1000 bis 1820 auf 2,21 Prozent in den Jahren
von 1820 bis 1998. Der Lebensstandard der Menschen in den Industrieländern hat
sich seitdem außerordentlich verbessert, Unterernährung und Hunger verschwinden
- zumindest in Europa in friedlichen Zeiten. Zugleich wird seit der
Industrialisierung gegen Ende des 18. Jahrhunderts jedoch der wachsende
Wohlstand extrem ungleich verteilt. In Westeuropa beträgt das durchschnittliche
Pro-Kopf-Einkommen im Jahre 1998 17921 US-Dollar, in den USA und Kanada liegt
es bei 26146 US-Dollar. In Asien (ohne Japan) beträgt der Durchschnitt der
Pro-Kopf-Einkommen aber nur 2936 US-Dollar und in Afrika 1368 US-Dollar - ein
Zwanzigstel des Wertes in den USA. Wachstum ist also keineswegs mit mehr
Gleichheit in der Welt verbunden. Im Gegenteil, Ungleichheit wird zu einer
Lebenserfahrung und zu einem Ärgernis zumindest für jene, die zu den
Benachteiligten gehören. Kapitalismus, dies zeigt sich von Anbeginn an, ist ein
System der qualitativen Angleichung (alles wird in Geld und Kapital
ausgedrückt) und der quantitativen Ungleichheitsproduktion: Die einen haben
viel, die anderen wenig und einige gar keine Geldeinkommen. Daher sind auch die
monetären Ansprüche an die Ressourcen der Erde höchst ungleich. Die Menschen
haben einen verschieden großen „ökologischen Fußabdruck“. Ein unfreiwillig absurder
Ausdruck der qualitativen Angleichung ist der Anspruch Angus Maddisons, alles
in langen Zeitreihen über die Jahrhunderte und die Kontinente hinweg in normierten
US-Dollar von 1990 messen zu wollen und zu können. Nun erst wird Wachstum,
nachdem es so dramatisch seit der industriellfossilen Revolution gesteigert
werden konnte, eine zentrale Kategorie in modernen ökonomischen Diskursen. Es
wird zum Fetisch. Wachstum sei „gut für die Armen“, behaupten Weltbank-Autoren.
An der Wachstumsrate wird Regierungspolitik im internationalen Vergleich
bewertet, zum Beispiel seitens der OECD. Der Council of Economic Advisers des
US-Präsidenten hat in seinem „Economic Report of the President“ im Jahre 2003
das sechste Kapitel ganz der Frage gewidmet, warum Wachstum im Wesentlichen
Vorteile bringt.
Einige „Pro Growth
Principles“ werden vorgestellt. Dazu gehören unter anderen: wirtschaftliche Freiheit,
Wettbewerb und Unternehmertum, makroökonomische Stabilität, Privatisierung,
Offenheit für internationalen Handel, ausländische Direktinvestitionen und
Liberalisierung der Finanzströme. Das ist die neoliberale Agenda pur. Die Weltökonomie
muss wachsen, lautet das Credo, das unzählige Male wiederholt wird. Der
Wachstumsimperativ ist also fest verankert in den ökonomischen und politischen
Diskursen. Je höher das Wachstum, desto weniger wirtschaftliche, soziale und
politische Probleme - und umgekehrt. Kein Wunder also, dass auch im
Koalitionsvertrag vom November 2005 „neues Wachstum“ als ein vorrangiges Ziel
gilt. Man will nicht wahrhaben, dass das ökonomische Wachstum nicht
geometrisch, sondern linear ist und sich mit der Zeit dem Grenzwert Null
naturgesetzlich nähert. Erst seit den 1920er Jahren entsteht die Wachstumstheorie.
In der frühen Sowjetunion beginnt die Planung der Wirtschaft. Jetzt kommt es
darauf an, dass die Proportionen der Branchen und Abteilungen (Investitions-
und Konsumgüter) stimmen. Mit der keynesianischen makroökonomischen Wende nach
dem großen Schock der Weltwirtschaftskrise vor einem Dreivierteljahrhundert
kommt die Wachstumsfrage auch in der westlichen ökonomischen Theorie auf die
Agenda, zumal inzwischen der „Systemwettbewerb“ ausgebrochen ist. Das erklärte
Ziel lautet: Steigerung der Wachstumsraten, um den Kapitalismus „einzuholen und
zu überholen“, bzw. - von westlicher Seite - um den Vorsprung gegenüber der
Sowjetunion zu wahren. Wachstum wird zu einem Element der Alltagswelt und des
Alltagsverständnisses sowie zu einer Selbstverständlichkeit, die überhaupt
nicht selbstverständlich ist. Dies lässt sich am Beispiel der globalen Krise
der Automobilindustrie darstellen: Die Entwicklung des Kapitalismus des 20. Jahrhunderts
wäre gar nicht denkbar ohne das Automobil. Das Auto ist das entscheidende
Symbol für Modernität, Wohlstand, Mobilität und Dynamik, es hat einen zentralen
Stellenwert bei der Ankurbelung von Wachstum und bei der Sicherung von
Wettbewerbsfähigkeit von „Standorten“. Die Automobil- und mit ihr verbundene
Industrien hatten über Jahrzehnte überdurchschnittliche Zuwachsraten. Die
Entwicklung einer eigenständigen Automobilindustrie gilt als Schlüssel der
Industrialisierung schlechthin. Die Städte, die Kommunikations- und
Transportstrukturen sind auf das Automobil zugeschnitten, also auf
Beschleunigung und Expansion. Das Automobil ist das paradigmatische Produkt des
fossilen Zeitalters.
Ohne Öl kein Auto,
und ohne Auto nicht die Art von Mobilität, die das 20. Jahrhundert und wenige
Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts prägt - so lange die Versorgung mit Öl reicht.
Der Fossilismus hat sich mit dem Automobil und allen seinen Begleiterscheinungen
in den Lebenswelten eingenistet, zu einer Kultur verdichtet. In jeder
Plastiktüte ist er präsent, und jeder Last-Minute-Flug ist ein (fossiles) Erlebnis
- für die Generationen der Öl-Bonanza jedenfalls, für spätere Generationen
nicht mehr. So kommt es, dass die Wachstumsdynamik nicht nur aus den
Investitionen stammt, sondern auch aus dem Konsum. Wachstum wird zum Fetisch,
dessen Lebenssaft aus fossilen Energieträgern, vor allem aus Öl, besteht. Damit
geht eine paradoxe Verkehrung einher. In der Frühzeit der kapitalistischen
Industrialisierung gegen Ende des 18. Jahrhunderts hatte die Nutzung fossiler
Energieträger für den Antrieb des Systems industrieller Werkzeuge auch eine
Steigerung des Wachstums zur Folge. Ein gesellschaftlicher Imperativ des
Wachstums jedoch existierte in jener Epoche nicht, denn die Gesellschaften
waren nicht vollständig durchkapitalisiert. Es gab nicht-kapitalistische Räume,
in denen das Gesetz von Profit, Akkumulation und Zins keine volle Gültigkeit
hatte. Heute ist Wachstum in die gesellschaftlichen Verhältnisse, in Produktion
und Konsumwelt gleichermaßen, eingeschrieben. Die Finanzmärkte spielen dabei
eine immer wichtigere Rolle. In der globalen Konkurrenz der Finanzplätze
nämlich werden Renditen von Finanzanlagen verlangt, die 20 Prozent und mehr
betragen. So hohe Zuwächse hat es über längere Zeiträume auch in den Zeiten der
Wirtschaftswunder nirgendwo gegeben.
Wenn das Wachstum zur
Bedienung von Finanzanlagen unzureichend ist, muss es gesteigert werden, oder/und
es findet ein brutaler Prozess der Umverteilung zu Gunsten der Finanzanleger
auf globalen Märkten statt. Bevor ich auf die Frage eingehe, was passiert, wenn
der Treibstoff des Wachstums, die fossilen Energieträger, in den nächsten
Dekaden ausgehen sollte, müssen wir uns der Funktionsweise der Finanzmärkte
zuwenden. Finanzkrisen sind interne, sich aus der Funktionsweise des Systems
ergebende Schocks, die ganze Gesellschaften erschüttern. So lange das
Fixkurs-System von Bretton Woods (bis 1973) einigermaßen funktionierte, lagen
die Realzinsen unter der realen Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts (BIP).
Dies war die Voraussetzung für das keynesianische Positivsummenspiel von
kredit-finanzierten Investitionen, die den Kapitalisten positive Renditen
(Profitraten) brachten, aus denen die (ebenfalls positiven) Kreditzinsen an die
Kreditgeber gezahlt werden konnten. Nur eine solche Konstellation ermöglicht in
einer kapitalistischen Ökonomie beides, nämlich Akkumulation von realem Kapital
und mithin positives Wirtschaftswachstum sowie - ceterisparibus- die Schaffung
neuer Arbeitsplätze einerseits und finanzielle Stabilität andererseits.
Bis Ende der 70er
Jahre war das Niveau der realen Zinsen sehr niedrig, zeitweise in einigen
Ländern nahe Null. Doch dann kam die böse Überraschung: Öffentliche und private
Kreditnehmer, die Anleihen in US-Dollar aufgenommen hatten, als der Realzins in
den USA niedrig, die Wachstumsraten der Weltwirtschaft hoch und die Exportpreise
günstig waren, mussten seit Ende der 70er Jahre steigende Realzinsen, abnehmende
Nachfrage in den Industrieländern und explodierende Ölpreise verkraften. Dies
war vielen Ländern nicht möglich, die daher in die Schuldenkrise gerieten.
Mexiko machte 1982 den Anfang, die meisten Länder der damals noch so genannten Dritten
Welt folgten. Das Niveau der Realzinsen übertraf in den nächsten mehr als zwei
Jahrzehnten die Zuwachsrate des BIP. Erst gegen Ende der 90er Jahre gingen die
Realzinsen während des New-Economy-Booms erneut leicht zurück. Als die
New-Economy-Blase im Jahre 2000 platzte und auch die realen Wachstumsraten des
BIP zurückgingen, waren in den Industrieländern, und erst recht in den
Entwicklungs- und Schwellenländern, die Realzinsen erneut höher als die realen
Wachstumsraten. Tiefgreifende Veränderungen der Struktur des globalen
Kapitalismus sind die Folge der hohen Realzinsen: Erstens zählt die monetäre
Rendite mehr als die Rendite von realen Investitionen (Profitrate). Das wäre
kein Problem, wenn die Zentralbanken noch über die souveräne Macht verfügten, die
Zinsen (den Diskontsatz) unter die Rendite (Profitrate) von realen
Investitionen zu drücken - wie Keynes es zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in
den 30er Jahren vorgeschlagen hatte. Zweitens werden die Möglichkeiten von
Kapitalanlagen weltweit verglichen. Dies hat zur Folge, dass - anders als Marx
es sich vorstellen konnte - weniger die industrielle Durchschnittsprofitrate
zum Vergleich von alternativen Kapitalanlagen herangezogen wird als Zinsen,
Renditen und vor allem der monetär gemessene Unternehmenswert („shareholder
value“). Drittens entstehen Institutionen, die Kapital sammeln und dieses
weltweit für ihre Klientel investieren (Pensions-, Investitions-,
Private-Equity- oder Hedgefonds etc.). Durch diese Veränderungen ist der
globalisierte Kapitalismus als „Kultur“ in breite Schichten der Bevölkerung in
den Industrieländern eingedrungen. Viertens haben die großen Finanzkrisen seit
den 80er Jahren den Menschen in den betroffenen Ländern extrem hohe Verluste
zugefügt (in Indonesien, Argentinien, Mexiko und anderswo). Anders als in der
fordistischen Phase haben die Krisen immer globale Reichweite. Infolge des großen
Gewichts der finanziellen Sphäre im globalen Kapitalismus hat sich das
Verhältnis von realer und monetärer Akkumulation verändert. Freilich haben
letzten Endes die Krisen doch ihren Ursprung in den Widersprüchen der
Produktionssphäre. Nur sind die Vermittlungen von realer und monetärer Sphäre
sehr viel komplexer als in den Zeiten vor der finanziellen Liberalisierung.
Renditen von mehr als 20 Prozent können an die Aktionäre nur gezahlt werden,
wenn nicht nur die aus Wachstum stammenden Überschüsse verteilt werden, sondern
ein globaler Prozess der gewaltigen und häufig gewaltsamen Umverteilung zu
Gunsten der „Shareholder“ aus der Vermögenssubstanz von Gesellschaften in Gang
gesetzt wird. Der globale Kapitalismus ist also räuberisch und kurzsichtig, wie
bereits Rosa Luxemburg und Hannah Arendt hervorhoben.
Die Falle des Fossilismus
Die Wirkungsweise der
globalen Finanzmärkte führt also zu einem hohen Niveau der Realzinsen und Renditen,
so dass ein enormer Druck auf ökonomische und politische Akteure ausgeübt wird,
das reale Wachstum zu steigern. Der dominante Wachstumsdiskurs bietet dabei die
ideologische Unterstützung. Das hohe Wirtschaftswachstum der vergangenen zwei
Jahrhunderte seit der industriellen Revolution wäre aber gar nicht denkbar ohne
die Ausbeutung (Extraktion) der fossilen Energieträger.
Das Öl jedoch geht
zur Neige. Niemand kann genau sagen, ab wann es nicht mehr zur Verfügung stehen
wird. Doch spricht vieles dafür, dass der Höhepunkt der weltweiten Ölförderung
von bisher 944 Mrd. Barrel im Verlauf dieses Jahrzehnts überschritten wird.
Dann gibt es zwar immer noch Öl, nämlich zwischen geschätzten 748 Mrd. (ASPO)
und 1149 Mrd. Barrel (BP); die statistische Reichweite (Reserven dividiert
durch den gegenwärtigen Jahresverbrauch) beträgt etwa 40 Jahre. Die jährlich
neu gefundenen Lager sind wesentlich kleiner als die Jahresförderung, so dass
die Bestände abnehmen und die Angebotskurve des Öls sich nach unten neigt - und
dies bei steigender Nachfrage. Denn alle neu industrialisierenden Länder, beispielsweise
Indien und China, sind auf den Treibstoff von Wachstum,
Produktivitätssteigerung und Mobilität angewiesen, und die hoch entwickelten
Länder sind nicht in der Lage und kaum bereit, ihre Nachfrage nach Öl zu
drosseln. Die Kongruenz von Kapitalismus und Fossilismus erweist sich nun als
eine Falle. Das reale Wachstum kann gar nicht so hoch sein, dass alle monetären
Ansprüche (Renditen und Profite) aus dem real produzierten Surplus und ohne
illegitime und kriminelle Aneignung befriedigt werden können. Denn fossile
Energien haben immerhin ein natürliches Maß, nämlich ihre Verfügbarkeit und die
Tragfähigkeit der natürlichen Sphären für die Verbrennungsprodukte, vor allem
das CO2; das gesellschaftliche System des Kapitalismus dagegen ist autoreferenziell
und daher maßlos. Der Höhepunkt der Erdölförderung lässt sich für einzelne Lagerstätten,
für Länder und die Welt insgesamt bestimmen. Die USA haben den Scheitel ihrer
Ölförderung (ihr „Peak Oil“) bereits Anfang der 70er Jahre überschritten. Sie
können den inländischen Verbrauch mit inländischer Förderung nicht mehr decken.
Die entstehenden
Diskrepanzen zwischen Angebot und Nachfrage können nur durch Importe überwunden
werden. Schon im Mai 2001 - also vor dem 11. September - hat der amtierende
Vizepräsident der USA und Ex-Chef von Halliburton, Richard Cheney, einen
Bericht über die Ölsicherheit der USA vorgelegt. Darin wird ausgeführt, dass
die heimische Produktion bis 2020 von 8,5 auf 7 Mio. Barrel pro Tag (b/d)
zurückgehen und der Ölverbrauch von 19,5 auf 25,5 Mio. b/d ansteigen. Die
wachsende Lücke müsse daher durch Importe gedeckt werden, die um 68 Prozent von
11 auf 18,5 Mio. b/d wachsen werden. Die Sicherung der Energieversorgung
erlangt also höchste Priorität in der US-Außenpolitik. Die Weltproduktion
freilich hat ihren Höhepunkt noch nicht erreicht, und deshalb ist es möglich,
mit Hilfe eines Regimes des Freihandels und des US-Dollars als Ölwährung auf
die Ressourcen anderer Länder zurückzugreifen, auf die von Mexiko, Venezuela,
des Nahen und Mittleren Ostens etc. Das Regime des Freihandels kommt den
reichen Ölimporteuren zugute. Doch nähert sich erstens die Extraktion in vielen
dieser Länder ebenfalls dem Peak, und zweitens steigt die Nachfrage nach Öl in
dem Masse, wie aus Gründen der Wettbewerbsfähigkeit unter dem Regime des
Freihandels Wachstum in allen Ländern, die sich durch Liberalisierung und
Öffnung der Märkte daran beteiligen, erzwungen wird. Der Zwang hat die
institutionelle Gestalt des Internationalen Währungsfonds (IWF) oder der
Welthandelsorganisation (WTO), die beides zu realisieren versuchen: Freihandel
zum Zugriff auf die Ressourcen der ärmeren Länder durch die reichen Länder, und
Wachstum, um den monetären Verpflichtungen (beispielsweise infolge von
Verschuldung) gegenüber global operierenden Fonds nachkommen zu können. Öl wird
also knapp und bei hoher Nachfrage entsprechend teuer. Importländer von Öl,
insbesondere Entwicklungs- und Schwellenländer, müssen daher steigende Anteile
ihrer Exporterlöse für den Import des Öls aufwenden. Für Exportländer von Öl
ist die Steigerung von Ölexporten und -einnahmen nicht unbedingt von Vorteil.
Denn der Ölreichtum fördert eine einseitige Ausrichtung der Ökonomie, beeinflusst
die Terms of Trade zu Ungunsten der Industrieproduktion, hemmt also eine
ausgeglichene Entwicklung, öffnet der Korruption ein weites Feld und bietet
eine offene Flanke für Interventionen von außen, wie besonders brutal und
mörderisch im Irak. Ölreichtum kann sich in einen Fluch verwandeln.
Der Mittlere und Nahe
Osten ist in Zukunft entscheidend für die Versorgung mit der immer knapper werdenden
Ressource Öl, und daher wird diese Region noch mehr zum Konfliktgebiet als schon
in der jüngeren Vergangenheit. Die Konflikte um Ölressourcen werden daher nicht
nur auf dem Markt, sondern auch auf politischem Terrain ausgetragen: als Kampf
um Territorien der Ölförderung und der Logistik (Pipelines oder Tankerrouten),
als Auseinandersetzung um die Preisbildung und die Währung, in der die
Ölrechnungen ausgestellt werden. Ein neues „Great Game“ um den Zugang zu den
Ölressourcen und um deren Verteilung wie am Ausgang des 19. Jahrhunderts ist
eröffnet, dieses Mal nicht nur im Kaukasus und im Nahen und Mittleren Osten,
sondern in der ganzen Welt. Pipelineistan ist überall, ist global. Angesichts
der Defizite in Budget und Leistungsbilanz der USA von jeweils vielen hundert
Millionen US-Dollar und einer drohenden Abwertung des US-Dollar ist es aber
nicht unwahrscheinlich, dass Ölexporteure dazu übergehen, den Ölpreis in Euro
zu fakturieren. Der Krieg gegen den Irak hat auch den Nebeneffekt gehabt, dass
Tendenzen in diese Richtung (in Venezuela, Irak, Libyen) zunächst gestoppt
worden sind. Aber sie kommen wieder, wenn die USA ihr Zwillingsdefizit nicht
reduzieren und sich nicht aus dem irakischen Sumpf durch Rückzug befreien
können. Die USA bekämen ein riesiges Problem, wenn sie die steigenden Ölimporte
nicht mehr in US-Dollar begleichen könnten, sondern beispielsweise in Euro
bezahlen müssten. Wenn die jährlichen Ölimporte, wie der Cheney-Bericht
ausführt, von vier auf etwa sieben Mrd. Barrel im Jahr 2020 steigen, sind bei
einem Preis von rund 50 US-Dollar pro Barrel derzeit 200 Mrd. US-Dollar für die
Bezahlung der Ölrechnung nötig; 2020 wären es schon an die 350 Mrd. Das sind
nach dem Wechselkurs Anfang 2005 etwa 260 Mrd. Euro. Die Konfliktträchtigkeit
des fossilen Regimes zeigt sich auch beim Umgang mit den Emissionen, vor allem
mit den Treibhausgasen. Wegen der Schädlichkeit der Treibhausgas-Emissionen ist
ja das Kyoto-Protokoll erarbeitet worden, das nach der Unterzeichnung durch
Russland im Februar 2005 in bindendes internationales Recht verwandelt worden
ist.
Die USA haben diese multilaterale Übereinkunft nicht unterzeichnet. Doch lässt sich davon die Klimaentwicklung nicht beeindrucken. Der Treibhauseffekt bedroht die Umwelt und Nahrungssicherheit, die Sicherheit der Behausung und die Gesundheit der Menschen in aller Welt. Darüber hinaus hat er heute bereits kalkulierbare ökonomische Kosten. Denn die Zahl der ungewöhnlichen Wetterbedingungen und der Unwetter, die hohe Schäden verursachen, nimmt in aller Welt zu; seit den 60er Jahren hat sie sich verdreifacht. In der Mitte des 21. Jahrhunderts werden jährlich Kosten in der Größenordnung von 2000 Mrd. US-Dollar erwartet. Die jahresdurchschnittlichen Kosten haben sich von 54 Mrd. in den 60er Jahren auf 432,2 Mrd. US-Dollar in den 90er Jahren verachtfacht. Allein im Jahre 2005 betragen die Schäden durch außergewöhnliche Wetterbedingungen fast 250 Mrd. US-Dollar, davon sind 75 Mrd. US-Dollar versichert. Auf die dramatischen Folgen des möglichen Klimakollapses richtet sich inzwischen auch das Pentagon mit unilateralen Präventionsmaßnahmen ein. Nicht vorbeugender Klimaschutz zur Vermeidung einer abrupten Klimaänderung ist die politische Linie der Bush-Cheney-Rumsfeld-Regierung, sondern die militärische Abwehr gegen die Folgen der klimatischen Änderungen. Insbesondere die zu erwartenden Migrationsströme sollen mit militärischen Mitteln abgefangen werden. Wenn infolge des Temperaturanstiegs beispielsweise die Eiskappe Grönlands teilweise schmilzt, verringern sich Dichte und Salzgehalt der Gewässer des Nordatlantik. Dies kann dazu führen, dass der Golfstrom abreißt und das gemäßigte Klima in den Anrainerstaaten des Nordatlantik abrupt verändert wird, weil weniger warmes Wasser nach Norden, also in unsere Breiten transportiert wird. Paradoxerweise kann also die globale Erwärmung zu einer regionalen Abkühlung, zum Beispiel in Europa, führen. Die Auswirkungen auf die Versorgung mit Nahrungsmitteln oder auf den Wasser- und Energieverbrauch können katastrophische Ausmaße haben, gewaltsame Konflikte werden befürchtet. Der Unilaterialismus der Bush-Regierung ist nicht nur aggressiv, er verfolgt vor allem die Herstellung exklusiver Sicherheit für jene in der „Heimat“ unter der Obhut des „Heimatschutz-Ministeriums“ gegen die anderen aus anderen Ländern. Jenseits des Kapitalismus Grenzen des Kapitalismus zeigen sich also überall. Wenn das Öl zur Neige geht, könnte dies der externe Schock sein, den Fernand Braudel erwähnte. Die Welt könnte im Chaos versinken. Doch gibt es auch die überzeugenden Alternativen, die im Innern der Gesellschaft heranreifen? Es gibt sie. Soziale Bewegungen, die auf Alternativen zur kapitalistischen Marktgesellschaft zielen, emanzipieren sich aus den Handlungslogiken, die vom Markt vorgegeben werden. Gibt es mehrere Handlungslogiken, dann ist dies bereits ein Hinweis darauf, dass der historische Pessimismus vom Ende der Geschichte nicht gerechtfertigt ist. Tatsächlich erhellt bereits der Blick zurück in die Geschichte des Wirtschaftens, wie unterschiedlich in verschiedenen Kulturen und Geschichtsepochen Ökonomie und Gesellschaft koordiniert wurden, wie facettenreich die Denk- und Handlungsmuster sind, die sich in den immer wiederkehrenden, zur Routine gewordenen Handlungen herausbilden.
Erst im modernen Kapitalismus mit seinen globalen Institutionen und in Folge der globalen Vereinheitlichung, betrieben gerade auch von den internationalen Institutionen wie WTO und IWF, wird die Diversität von Handlungslogiken auf ein dominantes Muster, nämlich das der Äquivalenz, reduziert, theoretisch begründet innerhalb der pensée unique des Neoliberalismus und praktisch durchgesetzt innerhalb des Systems der Marktbeziehungen. Doch gibt es auch das Prinzip der Solidarität und Fairness. Es ist den Prinzipien von Äquivalenz und Reziprozität entgegengerichtet, denn es geht vom gesellschaftlichen Kollektiv und nicht von Individuen und ihren marktvermittelten Beziehungen aus und kann nur in organisierter Form zur Geltung kommen. Wir-AG statt Ich-AG, könnte man zuspitzen. Es verlangt keine hierarchische Regulation von Ökonomie und Gesellschaft von oben, im Gegenteil. Solidarität entsteht nur mit breiter Beteiligung von unten. Gemeinsame Anstrengungen zur Lösung eines gemeinsamen Problems sind gefragt. Jeder leistet seinen solidarischen Beitrag nach seinen Möglichkeiten, das heißt unter Bedingungen der Fairness. Solidarität setzt daher ein Bewusstsein von Gemeinsamkeit und innerer Verbundenheit in einer Gesellschaft voraus, die in einer Kultur, Ethnizität, Lokalität, Klasse oder einer die Klassen übergreifenden Lebenserfahrung begründet sein kann, um ein großes Problem, beispielsweise Arbeitslosigkeit, Armut oder Rechtlosigkeit, gegenüber transnationalen Unternehmen gemeinsam zu bewältigen. Der „Entbettung des Marktes aus der Gesellschaft“, die eine Bedingung der ökonomischen Äquivalenzbeziehungen (alles wird in Geld ausgedrückt) ist, wird in solidarischen und fairen Verhältnissen entgegengewirkt. Moralisch ist, so Emile Durkheim, all das, was eine Quelle von Solidarität gegen die „Triebe des Egoismus“ und die Entfremdungstendenzen werden kann. Daher verwendet E. P. Thompson den Begriff der „moralischen Ökonomie“. Diese hat ihre eigenen Kriterien für das, was als legitim und sozial gerecht beurteilt wird, die sich nicht auf das Äquivalenzprinzip zurückführen lassen. Die Solidarität geht also von der Gemeinschaft aus, und diese ruht auf einem gemeinsamen Wertesystem und Erfahrungshintergrund, also auch auf einem gemeinsamen, kollektiven Gedächtnis. Dieses vermittelt ein gemeinsames Vorverständnis in politischen Auseinandersetzungen, ohne dass dieses, beispielsweise mit Hilfe von Schulungskursen in einer Partei, erst hergestellt werden müsste.
Die moralische Ökonomie ist eine praktische Antwort auf die „Entbettung“ des Marktes aus der Gesellschaft, also gegen die ökonomischen Sachzwänge. Daraus entwickeln sich die Konflikte mit den Mächten des Marktes, des Weltmarktes zumal. Diese Konflikte haben immer eine politische Dimension. Denn in den meisten Fällen sind Basisbewegungen gezwungen, sich gegen Regierungen zu richten und in ihren Kämpfen Gegenmacht aufzubauen, indem Territorien, Land und Fabriken, Kohlenminen und Erdölfelder besetzt und verwaltet und gleichzeitig Bündnisse mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und manchmal auch mit Teilen des Staatsapparats geschmiedet werden. Die Ansätze einer alternativen solidarischen Ökonomie entwickeln sich gegen die dominanten neoliberalen Tendenzen der Unterwerfung der Gesellschaften unter die Gesetze des globalen Marktes. Die generelle Richtung ist eindeutig zu bezeichnen, und sie ist gut begründet: Die fossilen Energien müssen sehr schnell durch erneuerbare Energien ersetzt werden, denn das Zeitfenster ist aufgrund des Umstands, dass der Scheitelpunkt der Ölförderung sehr bald erreicht sein wird, nicht mehr lange offen.13Die erneuerbaren sind langsamer als die fossilen Energien, und sie sind nicht unabhängig vom Ort: die Windenergie, die Photovoltaik, die Wasserstoffwirtschaft, die Wasserkraft, die thermische Energie, die Gezeiten, die Biomasse. Keine dieser Energien kann die Bedingung der Kongruenz von Energiesystem und Kapitalismus erfüllen, die in den vergangenen zwei bis drei Jahrhunderten die menschheitsgeschichtlich einmalige Wachstumsdynamik ermöglicht hat. Zu Beginn des fossilen Zeitalters fand der Kapitalismus das ihm entsprechende Energiesystem sozusagen in nuce vor. Es musste nur in einer von Nicholas Georgescu-Roegen so genannten „prometheischen Revolution“ freigesetzt und dann entwickelt werden. Dies ist in den letzten beiden Jahrhunderten seit der industriellen Revolution in bravouröser Weise geschehen. Die globale Autogesellschaft ist der Höhepunkt und gleichzeitig das Memento, dass es auf diesem Wege trotz der immer stärker werdenden Wagen nicht weiter geht. Am Ende des fossilistischen Kapitalismus kann nur ein erneuerbares Energieregime weiterhelfen. Dem aber muss die soziale Formation des Kapitalismus angepasst werden. Das ist eine tiefere und umfassendere Revolution als es die französische oder russische waren. Sie ist auch schwieriger als die industrielle Revolution. Aber die ebenfalls existierenden Ansätze der solidarischen Ökonomie können die Verbindung zur Bewegung für die erneuerbaren Energieträger herstellen. Der Kapitalismus verschwindet nicht von einem Tag auf den anderen wie der real existierende Sozialismus im Verlauf einer „samtenen Revolution“, aber er wird ein anderer Kapitalismus werden als der, den wir kennen.