AUSSCHLUSS: An der Costa del Sol - einige Anmerkungen
zu einem Prozess, der Globalisierung genannt wird
I Die südspanische Costa del Sol ist wie eine
Verdichtung Europas: Hier befindet man sich in Deutschland, aber auch in
Großbritannien und den Niederlanden. Lidl-Supermärkte, Feriensiedlungen,
Golfplätze. Seit überwiegend Deutsche hier ihrem Trendsport nachgehen, ist das
karge andalusische Land grün geworden. Dafür wurden weiter nördlich auf der
iberischen Halbinsel ganze Täler geflutet. Die neuen Staudämme werden
gebraucht, um den rapide wachsenden Wasserbedarf zu decken. Ein bemerkenswerter
Prozess: Nicht das Sein produziert Ideologie, sondern ein Diskurs von
Freizeitgestaltung das materielle Dasein. Komischerweise wirkt sich der
Freizeittrend Tausende von Kilometern von seinem eigentlichen Bezugsraum
entfernt besonders massiv aus. In den Bauernhäusern der gefluteten
Pyrenäendörfer spielt Golf nur eine marginale Rolle.
Kultur als ein Motor kapitalistischer Entwicklung, die Neuformierung räumlicher
Zusammenhänge - ist es das, was mit Globalisierung gemeint ist?
II Dörfer, Städte, Siedlungsstreifen am Meer - als
was kann man die südspanischen Ferienorte bezeichnen? An der Küste stehen
Millionen von Wohneinheiten, doch eine Einwohnerzahl lässt sich kaum nennen. Die
meisten Wohnungsinhaber verbringen nur wenige Wochen im Jahr hier. Ohne Kerne
und Struktur breiten sich die Siedlungen in der Nähe der Strände aus. Spanien
war in den vergangenen 20 Jahren das El Dorado der europäischen Immobilienspekulation.
Dabei handelte es sich nicht um ein spanisches Phänomen - hier haben alle
investiert: deutsche Rentner, die neuen osteuropäischen Reichen, arabische
Ölmagnaten, britische Arbeiter. Und nirgends sonst in der EU wurde so viel
Schwarzgeld gewaschen wie hier. Das spanische Wachstumswunder der neunziger
Jahre wäre ohne die Vermögen aus Steuerhinterziehung und Drogengeschäften nicht
möglich gewesen. Während die Law&Order-Regierung Aznar demokratische Bürgerrechte abschaffte und die
Visumsbedingungen für Nicht-EU-Bürger verschärfte, freute sie sich über die
freie Bewegung illegalen Kapitals.
III Die Siedlungen wachsen wie Fleckenteppiche. Ein
Grundstück wird für ein Immobilienprojekt erschlossen, und es entstehen 100,
200, manchmal sogar 1000 mehr oder weniger identische Wohneinheiten - meist Chalets
im preiswerten Reihenhausstil. Auf dem angrenzenden Grundstück entsteht einige
Zeit später ein ähnliches Projekt in ganz anderem Baustil.
Der Kölner Kulturwissenschaftler Mark Terkessidis hat
diese Ortschaften einmal als "seelenlos" bezeichnet. Diese
Beschreibung trifft die Sache nicht schlecht. Zwar sollte man dem Verlangen
nach dem "Beseelten", "Authentischen" nicht leichtfertig
nachgeben. Und auch der Hinweis, es liege kein urbanistischer Plan vor, sondern
nur zügelloses Wuchern, kann an sich kein Argument gegen eine Architektur sein.
Aber im Fall dieser Küstensiedlung beschreibt das Wort seelenlos die
Verhältnisse eben doch ganz gut. Man möchte sich hier nicht aufhalten. Man ist
erschlagen von der pittoresk-industriellen Massenhaftigkeit. Die Orte wirken,
selbst in der Hochsaison, entleert. Und schließlich wachsen sie auch nicht in
einem freien, sich selbst gestaltenden Prozess. Dem Wachsen dieser Orte liegt
durchaus eine Ordnung zugrunde: kapitalistischer Markt und Bestechung.
Man könnte diese Siedlungen als Ausdruck der Globalisierung in Europa
beschreiben: Von einer transnationalen Arbeiterklasse gebaut, von Communities aus zahlreichen Ländern bewohnt - die sich
allerdings trotzdem in der Regel national trennen -, in einem Stil gebaut, der
sich national nicht zuordnen lässt, unbelastet von Regulierung und trotzdem
nicht frei.
IV Die neue Mauer hat viele Facetten: Hubschrauber,
die in regelmäßigen Abständen den Küstenstreifen entlang fliegen und nicht als
Polizeihelikopter erkennbar sind, wohl auch um die an den Stränden flanierenden
Touristen nicht zu beunruhigen. Patrouillenboote, die die Meerenge sichern,
starke Grenzkontrollen, jenseits und diesseits des Isthmus. Und natürlich das
Internierungslager von Tarifa: Am südlichsten Punkt
des europäischen Kontinents, in einer alten Festung, befindet sich, so erzählt
man hier, eine Sammelstelle für Einwanderer.
Das Ende des Blockkonflikts ist nicht identisch mit dem Beginn der so genannten
Globalisierung. Aber häufig wird der Mauerfall als Metapher hierfür verwendet -
für eine Welt, die sich näher gekommen sei. Die entscheidende Frage wird dabei
allerdings meistens unterschlagen: Wer ist sich näher gekommen?
Viele Lateinamerikaner, Asiaten und Afrikaner werden bestätigen, dass es vor
1989 leichter war als heute, nach Europa zu reisen. Selbst für viele Bürger des
ehemaligen Warschauer Pakts sind die Grenzen heute nicht durchlässiger als die
Todesstreifen von einst. Ökonomische Marginalisierung und ein ausgefeiltes
Grenzregime sorgen dafür, dass die gewachsene Mobilität nur von ausgewählten
Teilen der Weltbevölkerung genutzt werden kann.
Eine Statistik, die der deutsche Urlauber an der Costa del Sol in der Regel
nicht kennt, besagt, dass an der spanischen Außengrenze Europas seit Mitte der
neunziger Jahre mehr als 4000 Menschen ums Leben gekommen sind. Mit der Fähre
gelangt man in 45 Minuten sicher von Tanger nach Tarifa.
Doch die europäische Gesetzgebung verhindert, dass viele Menschen die Fähre
nehmen können. Die Leute reisen natürlich trotzdem: in Schlauchbooten, die der
strömungsreichen Meerenge von Gibraltar häufig nicht gewachsen sind. Seit Mitte
der neunziger Jahre starben damit allein an den spanischen Küsten der EU vier
Mal so viel Menschen als in 40 Jahren an der innerdeutschen Grenze.
V Die boat people kommen nachts und führen ein Schattendasein. Ohne
sie wäre auch das Leben der Deutschen anders: Der europäische Agrarmarkt wäre
zusammengebrochen und die Feriensiedlungen am Mittelmeer wären unbezahlbar. Im
andalusischen El Ejido, wo für deutsche Nachfrager
Obst und Gemüse produziert werden, hat es vor einigen Jahren Pogrome gegen
afrikanische Arbeiter gegeben. Auch deshalb ist von der - farbigen -
Arbeiterklasse Andalusiens nicht viel zu sehen. Sie versteckt sich.
Und trotzdem legt man natürlich Wert darauf, dass die Arbeiter kommen. Sie
müssen kommen. Ohne sie wäre das Geschäft nicht profitabel. Damit sie nützlich
sind, müssen sie allerdings zunächst ausgeschlossen werden. Als Legale wären
sie "überbezahlt".
Ist Globalisierung also das: Ein Einschließungsprozess, der auf Ausschließungen
beruht und diese vorantreibt?
VI Das Sprechen über diese Realität birgt ein
Problem. Mit wenigen Themen hat sich die kritische Kunstszene so ausführlich
beschäftigt wie mit der Grenz- und Zuwanderungspolitik. Auf den letzten beiden Dokumentas spielten Arbeiten über diesen Zusammenhang eine
zentrale Rolle, im Kino gab es Dutzende von sehenswerten Produktionen. Das
Thema wird verhandelt und scheint trotzdem gesellschaftlich ausgeblendet. Und
desto mehr geredet wird, umso weniger Wirkung scheint das Reden zu entfalten. Dabei
ist gleichzeitig der Begriff Globalisierung nicht nur in aller Munde, sondern
wird regelrecht beschworen. Man ist heute an vielen Orten zu Hause. Tatsächlich
sind viele Durchschnittseuropäer mittlerweile in der Welt herumgekommen:
Südafrika, Thailand, Mexiko - die Reiseziele liegen immer weiter entfernt. Andererseits
ist das allgemeine Bewusstsein über globale Zusammenhänge heute in Deutschland
kaum größer als vor 25 Jahren. Diejenigen, die viel unterwegs sind, sich
vielleicht sogar als global player
empfinden, bewegen sich extrem selektiv. Der transnationale Raum ist weltumfassend und doch eng begrenzt.
Was die Touristen angeht, dürfte das unumstritten sein. Der durchschnittliche
Europäer sucht in Südafrika oder Thailand jene Realität, die sich mit seinem
Leben daheim deckt. Zwar wird auch der Wunsch nach Exotik erfüllt, doch das
vermeintlich Andere ist eingebettet in eine Struktur des Identischen. Aus den
Robinson-Feriendörfern macht man Ausflüge in Naturreservate, die dem Safaripark
Hodenhagen ähneln.
Und es sind längst nicht nur die TUI-Reisenden, die so unterwegs sind. 2003
waren 17 Künstler und Architekten, der Autor eingeschlossen, auf Einladung der
Kulturstiftung des Bundes für ein halbes Jahr in Venezuela. Die Bezugsorte der
venezolanischen Gastgeber und der internationalen Stipendiaten hießen New York,
Paris, Haifa, Istanbul, Rio. Es war nichts Besonderes, wenn der
österreichisch-venezolanische Projektleiter nach Rotterdam zur Biennale oder
die italienisch-venezolanische Mitarbeiterin zum Shoppen
nach Miami flog. Aber es war etwas sehr Besonderes, wenn sie die Peripherie von
Caracas besuchten. Sie bewegten sich dort wie ein Expeditionskorps auf einem
feindlichen Planeten. So gesehen befinden sich die Barrios, die armen Vorstädte
von Caracas, von den besseren Gegenden der venezolanischen Hauptstadt weiter
entfernt als Rotterdam oder Miami. Die Bevölkerung dieser Viertel verwendet
andere Codes, pflegt eine andere Kultur, konsumiert andere Waren, und - was in
den Globalisierungsdiskursen auffällig oft unterschlagen wird - sie hat auch
eine andere Hautfarbe.
Interessant war, dass die Bewohner der Armenviertel profundere Kenntnisse über
ihre Stadt besaßen als viele Spezialisten. Sie lebten in der Peripherie und
arbeiteten - als Wachleute oder Verkaufshilfen - in den Reichenvierteln. Die
Wohlhabenden hingegen, darunter auch die meisten Stadtplaner und Architekten,
mit denen wir arbeiteten, besaßen von ihrer Stadt nur ein diffuses, fragmentiertes, angstbesetztes Bild.
In der Globalisierung, so heißt es, werden Distanzen überwunden und weltweite
Szenen geschaffen. Weil es bei dem Prozess, der gemeint ist, jedoch in vieler
Hinsicht um die kapitalistische Durchdringung von Räumen geht, hat die
Überwindung von Distanzen ihre Grenzen. Räumliche Abstände schrumpfen und
nehmen gleichzeitig zu. Dass dabei das allgemeine Wissen um die Welt wächst,
wage ich zu bezweifeln. Viele von uns haben heute eine Vorstellung davon, wie
es in Südafrika aussieht. Wir sind dort gewesen (oder empfangen zumindest den
National Geographic Channel
per Kabel zu Hause). Und doch waren wir meistens nur an jenen Orten, die wir
vorher schon kannten.
VII Zumindest in einer Hinsicht sollte man den
Prozess, der Globalisierung genannt wird, in Schutz nehmen. In Deutschland wird
häufig darüber geklagt, die Globalisierung führe zu kultureller Verarmung. Wie
so vieles in der Debatte bleibt auch diese These auffallend schwammig. Weder
wird deutlich, was mit Globalisierung gemeint ist, noch herrscht Einigkeit
darüber, was die Verarmung ausmacht. Die einen verstehen darunter die
Angleichung von Konsum- und Lebensmodellen, andere den Verlust der
"Reinheit der Sprache" (was immer das bedeuten mag), wieder andere
einfach die niedrigen Exportzahlen von deutschen Filmen, deutsche Musik und
Literatur. Um so eine "Verarmung" aufzuhalten, isst man dann bei
Wienerwald statt bei McDonald´s, kämpft - titanenhaft
- gegen die Anglisierung der deutschen Sprache und fordert, wie unlängst eine
unheilvolle Allianz aus Politikern, Popindustrie und Musikern, eine Musikquote
für Produktionen aus Deutschland.
Dabei wäre eine inhaltliche Differenzierung nicht schwer: Wenn mit
Globalisierung zunehmende Migrations- und Kommunikationsströme
gemeint sind, führt sie natürlich nicht zu kultureller Verarmung, sondern zum
Entstehen von neuem Reichtum und Hybriden - einer Vielheit, vor der sich der Mainstream-Konsens in Deutschland immer noch fürchtet. Wenn
mit Globalisierung hingegen die Zunahme transnationaler Kapitalflüsse und die
Verflechtung von Unternehmen beschrieben werden, ist es kaum verwunderlich,
wenn es zu Vermassungen und Vereinheitlichungen kommt. Der postfordistische
Kapitalismus zeichnet sich zwar auch durch die In-Wert-Setzung der Differenz
aus, doch das postfordistische Individuum bleibt ein
Massensubjekt. Wenn Verkaufsräume ökonomisch organisiert werden sollen, kommt
nicht zufällig der Supermarkt dabei heraus. Das Warenangebot mag zwischen
deutschen und italienischen Ketten variieren, doch die eigentliche Angleichung
der Lebensmodelle dürfte im Supermarkt selbst begründet sein. Und der hat eben
keine nationale Identität.
Kulturelle Verarmung wird nicht von Transnationalisierung, Kommunikation oder
Wanderungsbewegungen erzeugt. Sie ist das Ergebnis der Ökonomisierung aller
Lebensbereiche. Man sollte diese Begriffe endlich wieder voneinander trennen.
Autor: Raul
Zelik, 4. November 2005