Zum Leben Oscar Romeros
"Niemals habe ich das Leben
so sehr geliebt"

von María López Vigil

Als er 1977 Erzbischof von San Salvador wurde, erwartete kaum jemand, dass Oscar Romero binnen kürzester Zeit zu einem Symbol der Befreiungstheologie in Lateinamerika werden würde. Im Gegenteil, auf Grund seines Vorlebens schien es eindeutig, dass ein Konservativer die Nachfolge des gemäßigt-fortschrittlichen Erzbischof Luís Chávez angetreten hätte. Doch Romero überraschte alle, die Armen fanden in ihm einen Fürsprecher und Verteidiger, für die Reichen war es der politische Super-GAU: ein Roter als Erzbischof. Wer war dieser Mann, dessen unerschrockenes Auftreten die herrschende Elite dermaßen herausforderte, dass sie ihn am 24. März 1980 ermorden ließ?

Er könnte jetzt Predigten halten mit dem roten Käppchen auf dem Kopf, ein Kardinal der Heiligen Katholischen Kirche. Stattdessen liegt er im Keller der Kathedrale eines armen mittelamerikanischen Landes im vergessenen Süden begraben, mit einer Schusswunde in Höhe des Herzens. Es gibt wenige Menschen, die sich noch im Alter den Boden unter den eigenen Füßen wegreißen. Sicherheiten gegen Gefahren zu tauschen und in langen Jahren gesammelte Gewissheiten gegen neue Ungewissheiten ist ein Abenteuer für Jüngere. Das ist ein Gesetz des Lebens. Und es ist ein Gesetz der Geschichte, dass Personen mit Verantwortung und Verfügungsgewalt sich um so weiter von den Leuten entfernen, je mehr Macht sie bekommen. Oscar Arnulfo Romero, der universalste aller Salvadorianer, Hirte, Märtyrer und Heiliger unseres Lateinamerikas, hat beide Gesetze gebrochen. Im Alter von 60 Jahren ist er „umgekehrt". Und mit dem Aufstieg zum höchsten Amt, das die katholische Kirche in seinem Land bereit hält, begann er, sich der Wahrheit der Leute und der Wirklichkeit zu nähern. In der elften Stunde beschloss er, sich dem Mitgefühl zu öffnen und dabei das eigene Leben aufs Spiel zu setzen. Und er verlor es. So etwas passiert nicht vielen.

Schon in jungen Jahren, als er die Schreinerei lernte, seinem Vater half, der Telegraphist war, gerne Flöte spielte und in jeden Zirkus rannte, der in die Kleinstadt kam, wollte er Priester werden. Er wurde am 15. August 1917 als zweites von acht Kindern in Ciudad Barrios, Departement San Miguel, El Salvador geboren. Mit 13 Jahren ging er ins Priesterseminar und mit 26 wurde er ordiniert. 23 Jahre lang, von 1944 bis 1967, war er Gemeindepriester in San Miguel und widmete sich mit unvergleichlicher Zähigkeit einer Seelsorge, die aus Messen, langen Beichtsitzungen, Rosenkränzen, Novenen, Kinderkatechese, Laienbruderschaften und Religionsunterricht in katholischen Sekundarschulen bestand. Er war gut Freund mit den Reichen und mit den Armen, wollte der Hirte der Schafe und der Wölfe zugleich sein. Den Reichen zog er Almosen aus der Tasche, um sie den Armen zu geben, und erleichterte so den Armen ihr Schicksal und den Reichen ihr Gewissen. Später (1967-74) wurde er Weihbischof von San Salvador. In den lebhaften und glorreichen Tagen der lateinamerikanischen Bischofskonferenz in Medellín (1968) verhielt er sich, ebenfalls mit unvergleichlicher Zähigkeit, als kleiner Inquisitor gegenüber den engagierten Priestern und den Basisgemeinden in seinem in Unruhe geratenen Land.

Die Kirche der Erzdiözese San Salvador, eine der fortschrittlichsten auf dem ganzen Kontinent in einem der konfliktreichsten Länder des Kontinents, hasste ihn immer mehr. El Salvador: das Land der „14 Familien", die alles besitzen, das Land, in dem 1932 in einer Woche 40 000 Bauern und Bäuerinnen abgeschlachtet wurden und in dem die Verantwortlichen für dieses Massaker in den Zeitungen der 70er Jahre schrieben. „Wir töteten 40 000 und bekamen 40 Jahre lang Frieden. Hätten wir 80 000 getötet, dann wären es 80 Jahre geworden." Die Rolle als Inquisitor brachte Romero die Ernennung zum Bischof von Santiago de María ein. In dieser reichen Kaffee- und Baumwollzone lebte er von 1974 bis 1977. Und obwohl er weiter mit den reichen Großgrundbesitzern eng befreundet war, wurde er hier allmählich von der Wirklichkeit gepackt. Der Wirklichkeit der TagelöhnerInnen, die für die Reichen den Kaffee ernteten, und der Wirklichkeit der KatechetInnen, die ihren Brüdern und Schwestern im Elend die frohe Botschaft des Evangeliums brachten. Die Verdienste, die er sich in so vielen Jahren des exemplarischen und „neutralen" Priestertums erworben hatte, veranlassten die Militärs und die Oligarchie dazu, ihn dem Papst 1977 für das Amt des Erzbischofs von San Salvador vorzuschlagen, als das Land in seiner tiefsten Krise steckte, als die Armen massenhaft aufwachten und Demokratie, Gerechtigkeit und Leben forderten und als die Reichen mit krimineller Unnachgiebigkeit all dies ablehnten. Das Land stand in Flammen, und die Reichen vertrauten darauf, dass Romero löschen würde.

Zwei Wochen, nachdem er die erzbischöfliche Würde und Bürde übernommen hatte, kam es zu einer Wahlfälschung zu Gunsten der Partei der Militärs und im Zentrum von San Salvador zu einem Massaker an den Leuten, die dagegen protestierten. Das Feuer wurde zum bedrohlichen Brand. Einen Monat später, am 12. März 1977, ermordeten Paramilitärs im Dienste der Großgrundbesitzer in Aguilares den hoch angesehenen Jesuitenpriester Rutilio Grande. Überrollt von den anschwellenden Fluten, erlebte Monseñor Romero in den Tagen zwischen der Ermordung von Rutilio und der Messe, die er zu seinem Gedenken feierte und zu der 100 000 Menschen kamen, einen stürmischen und einmaligen „Gang nach Damaskus". Und von da an veränderte er sich, wurde nie wieder jener schüchterne und vom Gesetz und der Institution besessene Priester.

In den drei Jahren an der Spitze der Erzdiözese von San Salvador wuchs die prophetische Persönlichkeit von Monseñor Romero. Es waren Zeiten, in denen sich die Bevölkerung zunehmend organisierte und, als Antwort darauf, die Repression immer brutaler wurde. Es gibt keine Kirche in Lateinamerika, die eine längere und intensivere Zeit des Martyriums durchlebt hätte als die salvadorianische in jenen Jahren. Die Predigten, die Monseñor Romero Sonntag für Sonntag in der Kathedrale hielt, wurden bald zum freiesten Wort im Lande, machten ihn zum Lautsprecher des kämpfenden salvadorianischen Volkes. Es sind sehr lange Predigten, manche dauerten über zwei Stunden. Und sie sind von theologischer Dichte. Sie sind eine fortgesetzte Katechese und eine „Wochenzeitung". Kein Ereignis des nationalen Lebens wurde bei diesen Bewertungen durch den Erzbischof ausgelassen. Seine Botschaften nährten die kollektive Hoffnung. Es war sein Wort, aber auch seine Präsenz. Unermüdlich besuchte er die Gemeinden, feierte Messen und Firmungen, beriet FührerInnen der Volksorganisationen und politische Persönlichkeiten, vermittelte in Streiks und zahllosen anderen Konflikten. Er schien Zeit zu haben, um gleichzeitig überall zu sein. Seine Veränderung, sein zunehmendes Engagement und sein Protagonismus wurden für das System immer unerträglicher. Sie versuchten alles: Diffamierungen, Ermordung seiner Priester, Drohungen, kirchlicher Druck. Aber nachdem er einmal die Hand an den Pflug gelegt hatte, schaute er nie mehr zurück. Monseñor Romero kümmerte sich nie um seine persönliche Sicherheit und spielte bis zum letzten Augenblick mit offenen Karten. Er war sicher, dass sie ihn umbringen wollten. Und er wollte nicht sterben. „Niemals habe ich das Leben so sehr geliebt. Ich möchte ein wenig mehr Zeit, ich bin nicht zum Märtyrer berufen", sagte er in den letzten Wochen seines Lebens zu einem Freund.

Am Sonntag, dem 23. März 1980, versammelte er sich zum letzten Mal mit seinem Volk in der Kathedrale. Am Ende seiner Predigt richtete er den leidenschaftlichen und historischen Aufruf an die Soldaten, nicht länger auf ihre Brüder und Schwestern zu schießen, die Befehle der Offiziere zu verweigern. Am folgenden Tag, als der Abend hereinbrach und er in einer Krankenhauskapelle gerade die Predigt für eine verstorbene Frau beendete, war die Stunde gekommen. Ein Killer im Dienste von Roberto D’Aubuisson, dem Gründer der ARENA-Partei, schoss ihm mitten ins Herz. Vor dem Altar brach er zusammen. Das Volk barg seine Leiche und beweinte sie, wie man eine Mutter und einen Vater beweint. Am Palmsonntag des Jahres 1980 verabschiedeten sich die SalvadorianerInnen von ihm. Die Messe wurde von gezielten Schüssen der Sicherheitskräfte unterbrochen: 40 Tote und Hunderte von Verletzten. 1980 war ein tragisches Jahr: Mit der bis heute ungesühnten Ermordung Romeros brachen die Deiche des Respekts und des Mitgefühls, mit dem Tod des Hirten wurde die Herde in alle Winde zerstreut. Ströme von Blut ergossen sich in alle Winkel des Landes. Im Jahr darauf begann ein Krieg, der 12 Jahre dauern sollte. Das Blut von Oscar Romero vermischte sich für immer mit dem Blut des Volkes. Gestern im Krieg und heute im Frieden lebt er in ihm weiter.

Aus: Comités Oscar Romero del Estado Español, Agenda Latinoamericana ’95.   Gekürzt und übersetzt von Eduard Fritsch