Streitfall „Kirche der Armen“
Der Konflikt um die Seligsprechung Oscar Romeros
von Norbert Arntz

In der katholischen Kirche gibt es ein kompliziertes Verfahren, an dessen Ende die Selig- und später Heiligsprechung einer verstorbenen Person stehen kann, die auf Grund ihrer besonderen Nähe zu Gott und ihres Glaubenszeugnisses ein Vorbild für alle ChristInnen ist. Ein solches Seligsprechungsverfahren ist beim Vatikan auch im Falle Oscar Romeros anhängig. Auch wenn es engagierte ChristInnen für nicht besonders relevant halten, ob die Kurie in Rom Oscar Romero zum Seligen oder Heiligen erklärt oder nicht, so ist es doch eine hochpolitische Frage, wie in Rom und San Salvador mit seiner Seligsprechung umgegangen wird. Letztendlich geht es nämlich um die historische Würdigung der Person Romeros und des sozialen und religiösen Prozesses, sprich den Aufbruch zu einer Kirche der Armen, den er mitgestaltet hat und zu dessen Symbolfigur er wurde.

Anders als Mutter Theresa von Kalkutta war der bekehrte Oscar Romero ein Besorgnis erregender Fall in den Augen der vatikanisch orientierten Hierarchie der katholischen Kirche. Romero beunruhigt sie, weil er die kirchliche Lehre beim Wort nimmt. Er redet nicht über die Sterne, wie er selbst am 4. Dez. 1977 sarkastisch bemerkt, sondern von den realen und konkreten Problemen, unter denen die Leute leiden. „Eine Kirche, die sich nicht die Sache der Armen zu eigen macht, um aus Sicht der Armen das Unrecht anzuprangern, das man an den Armen begeht, ist nicht die wahre Kirche Jesu Christi.“ (Predigt vom 17. Febr. 1980). Seine Predigten berühren alle Bereiche des Lebens, den persönlichen und gesellschaftlichen Bereich, Politik, Wirtschaft und Kultur. Er betrachtet die Realität der Armen dialektisch, das heißt, er sagt, es gibt Arme, weil es Reiche gibt; es gibt Unterdrückte, weil es Unterdrücker gibt. Man kann sich historisch nicht an die Seite der Armen stellen und für sie eintreten, ohne dass sich zugleich die Verursacher dieser Verhältnisse attackiert fühlen. Selbst wenn stimmt, dass die Kirche für alle da ist, führt Parteilichkeit zu Gunsten der Armen doch in einen historischen Konflikt, der die Kirche in zwei Gruppen spaltet. Jene, die in Tat und Wahrheit an der Seite der Armen stehen, sind mit jenen konfrontiert, die zwar die gleichen Worte verwenden, sie aber mit ihren Taten nicht belegen. Romero trägt den gesellschaftlichen Konflikt in die Kirche hinein. Man wirft ihm vor, zu polarisieren und die Kirche zu spalten. Er provoziert Konflikte mitten in einer Hierarchie, die sich – zumindest nach außen hin – den Anschein der Einheit geben muss. Der Widerstand in hierarchischen und vatikanischen Kreisen lässt nicht auf sich warten.

Der Vatikan ernennt einen Weihbischof , um Romero „die Zügel anzuziehen“. Mehrfach muss Romero nach Rom reisen, um seinen Widersachern zuvorzukommen oder um sich zu rechtfertigen. Es kommt zu einer heftigen Begegnung mit Kardinal Baggio, dem Vorsitzenden der Vatikanischen Kommission für Lateinamerika. Baggio stellt Romero zur Rede und mahnt ihn, dass alle von seinem Verhalten enttäuscht seien. Er trete aggressiv auf. Ja, er habe seine Veränderung gar als „Bekehrung“ beschrieben. Einige Bischöfe hätten um Romeros Absetzung nachgesucht. Baggio erwähnt auch Romeros Predigten. Er habe einige gelesen, zwar habe er keinen dogmatischen Fehler entdeckt, aber die Predigten seien sehr lang und enthielten sehr konkrete Urteile. In seinem Memorandum, das er tags nach dem Gespräch an Kardinal Baggio richtet, schreibt Romero: „Natürlich kehre ich mit der Sorge zurück, dass Sie weiterhin nur einseitige Berichte erhalten werden, welche genau mit den tendenziösen Kommentaren der Mächtigen meines Landes übereinstimmen. Das hinterlässt in mir den Eindruck, dass Sie sich gewisse vorgefertigte Urteile über diese Angelegenheit zu eigen gemacht haben.“

Bei einem Spaziergang erklärt er einem Mitarbeiter: „Gegebenenfalls lasse ich mich lieber als Erzbischof absetzen und gehe mit hocherhobenem Haupt, als dass ich die Kirche den Mächten dieser Welt überlasse.“ Zu den „Mächten dieser Welt“ zählt er also auch Kardinal Baggio. Romero gerät in einen fundamentalen Gegensatz zu den Interessen jener innerkirchlichen Gruppen, die mit Verweis auf die angeblich religiöse Aufgabe der Amtsträger den Dienst an den Armen als die Aufgabe der Laien bezeichnen. Romero lehrt, dass eine Kirche, die sich mit dem Verweis auf die Seelsorge ökonomisch und politisch umstandslos in die herrschenden Verhältnisse einpassen lässt, die utopische Sprengkraft des Evangeliums verliert. Eine Kirche aber, die in den Sakramenten nur noch ihre eigene Gegenwart feiert, weil sie auf die Zukunft und das Leben für alle real verzichtet, eine Kirche, die Sakramente dazu verwendet, eine sich christlich nennende Gesellschaft zu stabilisieren oder gar ungerechte Zustände sakral zu übertünchen, kann sich nicht mehr die Kirche Jesu Christi nennen. Diese Widersprüche deckt Romero auf. Damit wird die Schärfe des innerkirchlichen Konfliktes erkennbar: Es geht nicht um einen Streit zwischen Schulmeinungen, sondern um einen Streit, der an den Nerv der Kirche geht.

Der ermordete Kronzeuge

Der Konflikt setzt sich nach seiner Ermordung fort. Romero heilig zu sprechen stellt in diesem Konflikt eine unerträgliche Provokation für seine Gegner dar. Denn ein solcher Akt würde Romero, den sie gehasst und diffamiert haben, offiziell zu einem vorbildlichen Menschen machen, zu einem nachahmenswerten Christen. Romero darüber hinaus als Märtyrer anzuerkennen, bedeutet dann auch, den Mord nicht zu verschweigen und auf die Mörder zu verweisen. Wer das Opfer heilig spricht, fällt zugleich ein Urteil über die Mörder, auch wenn ihnen Vergebung angekündigt wird. Welche Faktoren bei der Verfolgung des Märtyrers Romero im Spiel waren, geben verschiedene lateinamerikanische Bischofskonferenzen zu Protokoll: „Das historisch Neue an dieser Verfolgung ist, dass sie im Kontext der westlichen christlichen Welt geschieht durch jene, die sich als Verteidiger dieser Kultur und sogar der christlichen Grundsätze ausgeben. Dies alles geschieht, weil die verschiedenen Götzen der Unterdrückung, die in Puebla als solche gekennzeichnet sind, die Kirche Medellíns und Pueblas als Bedrohung empfinden.“ Das schrieben sie zur Vorbereitung auf ihre Versammlung von Santo Domingo 1992. Und hofften, ihre Märtyrer im Schlussdokument von Santo Domingo ehren zu können. Aber sie hatten nicht mit der arroganten Strategie der Vatikanischen Kommission für Lateinamerika (CAL) gerechnet, mit der „diabolischen Methodik“ und den Zwängen der Kurie. Die CAL setzt durch, dass die Märtyrer im Schlusstext nicht erwähnt werden. Viele Gründe werden vorgeschoben: Gefahr der Manipulation, Auflagen des Kanonischen Rechts, mögliche Konflikte in der Kirche etc. Romero scheidet auch nach seinem Tod die Geister.

Im April 1995 ernennt Papst Johannes Paul den damaligen Weihbischof von Santa Ana, Fernando Saénz Lacalle, Mitglied der Personalprälatur des Opus Dei und gleichzeitig Militärbischof der salvadorianischen Armee, zum neuen Erzbischof von San Salvador. Der Militärbischof einer Armee, deren Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen die von der UNO eingerichtete Wahrheitskommission in weiten Teilen aufgeklärt hatte, aus deren Reihen die Mörder Romeros sowie der Jesuitenkommunität stammen, wird zum Nachfolger Romeros ernannt. Die der politischen Rechten El Salvadors verbundene Tageszeitung „El Diario de Hoy“ kommentiert die Ernennung mit den Worten: „Papst Johannes Paul II. habe damit der bisherigen pastoralen Arbeit der Erzdiözese ein entschiedenes ,Basta' – ,Schluss jetzt' zugerufen.“ Anfang Februar 1996 besucht der Papst zum zweiten Mal El Salvador. Tausende von Männern und Frauen aus San Salvador säumen die Straßen, zeigen Transparente und fordern, dass Oscar Romero bald selig gesprochen werde. Hunderttausende warten während der Messe auf ein Wort des Papstes zu ihren Märtyrern und Märtyrerinnen. Der Papst redet darüber, dass Kommunismus und Kapitalismus sich in den achtziger Jahren auf den Feldern El Salvadors eine Schlacht geliefert hätten, bei der viele Opfer zu beklagen seien. Aber der Papst schweigt darüber, dass es Märtyrer gab, Zeugen des Reiches Gottes, die ihr Leben eingesetzt haben für das Leben aller. Indem alle Konflikte im Licht des Kampfes zweier antagonistischer Systeme gedeutet werden, kann der Tod der Christinnen und Christen, die für den Gott des Lebens Zeugnis abgelegt haben, uminterpretiert werden. Sie sind nicht gestorben wie Jesus als Zeuginnen und Zeugen für das Reich Gottes, sie sind nur die Opfer eines mörderischen Krieges der Systeme, allenfalls irregeleitet durch politische Optionen.

Auch auf der Sondersynode für die drei Amerikas, im Vatikan veranstaltet vom 16. November bis 12. Dezember 1997, scheidet Romero die Geister. Wiederum wird sein Name aus dem Schlussdokument gestrichen. Der Weihbischof von San Salvador, Gregorio Rosa Chávez, hebt in einer Rede vor dem Plenum das Zeugnis und das Martyrium Romeros hervor. In der Synodenaula wird die Rede des salvadorianischen Weihbischofs mit dem stärksten Applaus bedacht, den eine Intervention in den Plenarversammlungen überhaupt erhielt. Nach der Rede des Weihbischofs sieht sich der Erzbischof von San Salvador, Saenz Lacalle, dazu veranlasst, den Synodalen eine persönliche schriftliche Erklärung auszuhändigen. Darin bittet er die Synodalen um ein doppeltes Entgegenkommen: Erstens mögen die Synodenväter das Image des illustren Vorgängers nicht „entstellen“. „Ich kann Sie dessen versichern, dass seine wirksame und heroische Fürsorge für die Armen stets begleitet war von einer korrekten Lehrtätigkeit und einer echten Frömmigkeit.“ Dazu bezieht sich Saenz Lacalle auf Romeros Predigten. „Man kann nicht sagen, dass es in diesen Predigten Hinweise auf eine unkorrekte Theologie gibt.“ Darüber hinaus bittet er die Synodalen, „keine Aktivitäten zu organisieren, welche den Seligsprechungsprozess eher behindern als fördern“ und erläutert, dass „Hindernisse dann entstehen, wenn die Person Romeros auf missverständliche Weise verehrt oder absichtlich manipuliert wird, wenn man ihm öffentliche Verehrung zuteil werden lässt und ihn als Heiligen oder Märtyrer bezeichnet, bevor er durch den Papst offiziell dazu erklärt worden ist“.

Erzbischof Saenz Lacalle gehört zwar nicht zu jenen Sektoren der salvadorianischen Gesellschaft, die Romero offen vorwerfen, er habe sich auf unzulässige Weise in die Politik eingemischt, ja sei sogar mitverantwortlich für den Krieg und dürfe deshalb nicht heilig gesprochen werden. Aber seine schriftliche Erklärung von Rom weist andere Mittel auf, sich der Selig- bzw. Heiligsprechung von Romero zu entledigen. Der heutige Erzbischof und ihm nahe stehende Kreise setzen alles daran, den Erzbischof und Märtyrer Romero für die etablierte hierarchische Ordnung zu vereinnahmen. Romero wird zu einem „frommen“ „heroisch fürsorglichen“ Bischof erklärt, der sich bei seiner Lehrtätigkeit, bei seinen Predigten und öffentlichen Äußerungen keine „Unkorrektheiten“ habe zuschulden kommen lassen. Hinter solchen Einlassungen versteckt sich der Versuch, Romero vom historischen Zusammenhang seines Wirkens zu trennen, die Armensorge gegen die politische Parteilichkeit auszuspielen und sein befreiungs- theologisches Denken zu vertuschen. Das aber heißt, Romero seines prophetischen Amtes zu berauben. Der auferstandene Kronzeuge einer „realistischen Kirche“ Man darf gespannt sein, welcher Romero schließlich in Rom heilig gesprochen wird. Romero wurde ja nicht umgebracht, weil er fromm gebetet, theologisch korrekt gepredigt und sich den Armen fürsorglich zugewendet hat, sondern weil er der Prophet einer „realistischen Kirche“ war, einer Kirche, die sich nicht mehr als „Machtinstrument“ missbrauchen lässt, nicht mehr als Schachfigur im Spiel der Mächtigen fungiert, sondern „Fleisch und Blut annimmt im Interesse der Armen“. Die prophetische Kraft seines Wortes stammt aus Romeros Nähe zu den Armen und aus dem festen Glauben an die biblische Utopie vom Reich Gottes, von jener Gesellschaft, in der alle Platz haben. Für die Armen ist er deshalb lang schon „el santo completo“.
Nach Romero bedeutet „realistisch sein“: aktiv die ungerechte Armut und die Würdelosigkeit so vieler Menschen verstehen, sich von ihr betreffen lassen und angemessen auf sie reagieren. Der Kronzeuge Romero lässt im heutigen Kontext den Schluss zu: Wenn die Lage der Menschen in El Salvador und Chiapas, im Kongo und Ruanda, im Kosovo, in Tschetschenien und in Ost-Timor nicht das Denken der Kirche bestimmt, ihr Herz und ihren Verstand bewegt, dann ist die Kirche nicht in der Realität angekommen. Dann verweigert sich die Kirche nicht nur ihrem ethischen Anspruch, dann steht die Kirche nicht nur im Widerspruch zur Nachfolge Jesu, dann ist sie nicht einmal realistisch. Eine solche Kirche ist „unrealistisch“, weil sie in einer selbst fabrizierten Welt lebt. Wenn das von Rom verordnete Einheitsdenken, wenn liturgische Vorschriften oder hierarchische Regeln, wenn der „Religionsbetrieb“ Herz und Verstand der Kirche besetzt halten, dann hat sie jeden Realitätssinn verloren.

Nur wer – wie Romero – an Wunder glaubt, ist Realist. Wer in der organisierten Ausgrenzung der neoliberal globalisierten Welt an das Wunder jener Gesellschaft glaubt, in der alle Platz haben, ist zu politischem Realismus fähig. Politischer Realismus wird heute tatkräftig an eine Welt glauben, in der jeder einzelne Mensch seine Lebensmöglichkeit innerhalb eines Rahmens gesichert sieht, der die ökologischen Grundlagen des Lebens – die Natur – zugleich mit sichert. Der Kernsatz solcher Weitsicht lautet: „So leben, dass alle leben können.“ Dieses Glaubensbekenntnis ist nach Romero zugleich ein Gottesbekenntnis: „Denn Gott wird geehrt, wo und wenn die Armen leben können!“ u

Norbert Arntz, geb. 1943, ist als Priester des Bistums Münster in der Pfarrei Münster-Kinderhaus tätig und arbeitet mit dem ITP sowie mit der Christlichen Initiative Romero zusammen.