Sekten auf dem Vormarsch - Verlust indigener Identität und Tradition - Von Diego Cevallos
 
Mexiko-Stadt, 11. Mai (IPS) - Die vielen hundert christlichen Sekten und Religionsgemeinschaften, die in Lateinamerikas großen Zulauf haben, bedrohen zunehmend die Identität und die kulturellen Traditionen der indigenen Bevölkerung. Sie sind Auslöser für Unfrieden und Konflikte und drängen ihre Anhänger in einigen Ländern in eine bestimmte politische Richtung. Nicht nur große Religionsgemeinschaften wie die katholische Kirche, die Lutheraner, Baptisten, Adventisten und Mormonen haben sich in den indigenen Gemeinschaften ausgebreitet. Auch neuere, weniger bekannte christlich-fundamentalistische Gruppen wie die 'Wächter vom Heiligen Grab', die 'Kirche des Wortes' oder 'Alpha Omega' gewinnen dort immer mehr Anhänger.
"Welche Religion auch immer sie uns aufdrängen, jede von ihnen beeinflusst unsere Spiritualität. Das ist unsere Schwachstelle, denn wir Indigene betrachten das Leben von einer spirituellen Ebene aus", sagte Luis Macas vom Volk der Saragura IPS. Er ist Vorsitzender der Konföderation der indigenen Nationen Ecuadors.
Bis heute sind die meisten der 40 Millionen Ureinwohner Lateinamerikas katholisch. Im 15. und 16. Jahrhundert hatten die europäischen Eroberer den Katholizismus mit Feuer und Schwert verbreitet und dabei prä-kolumbianische Religionen und religiöses Brauchtum entweder ausgelöscht oder durch Assimilierung zumindest teilweise verdrängt. Später, vor allem im 20. Jahrhundert, kämpften auch andere Religionen in Konkurrenz mit der katholischen Kirche um die Seelen der Ureinwohner. So kamen in Chamula im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas in den letzten 30 Jahren 100 Angehörige der ethnischen Tzotzil-Maya bei religiösen Konflikten ums Leben. Weitere 30.000 indigene Protestanten wurden von besonders traditionalistischen katholischen Behörden vertrieben. Unter der überwiegend indigenen Bevölkerung der südmexikanischen Bundesstaaten Chiapas, Oaxaca und Guerrero, in denen sich in den letzten Jahren religiöse Sekten ausgebreitet haben, werden Anhänger von jeweils missliebigen religiösen Gruppen vertrieben, inhaftiert und misshandelt. Schulbesuch und medizinische Dienste bleiben ihnen verwehrt.

US-Sekten im Interesse der Mächtigen


In Ecuador hat sich eine einst mächtige, gut organisierte indigene Bewegung gespalten, die in den letzten zehn Jahren mit ihren massiven Protesten Präsidenten gestürzt und Regierungsposten besetzt hatte. Dahinter stehen nach Ansicht von Beobachtern politische Motive. Ein Teil der Bewegung schloss sich protestantischen Gruppen an, die den im April aus dem Amt gejagten Staatspräsidenten Lucio Gutiérrez weiterhin unterstützen. Auch in Guatemala und Bolivien, den lateinamerikanischen Staaten, deren Bevölkerung wie die Mexikos, Ecuadors und Perus überwiegend indigen ist, werden religiöse Konflikte häufig von politischen Parteien oder lokalen Behörden angezettelt. "Es ist unbestreitbar, dass die internen Probleme unserer Gemeinden einen religiösen Hintergrund haben", betonte Rafael González Yoc. Der Sprecher des Komitees für die Einheit der Kleinbauern und Landarbeiter in Guatemala erklärte in einem Gespräch mit IPS: "Einige Kirchen kümmern sich um soziale Anliegen, während andere den Zusammenhalt durch spirituelle Konformität erzwingen. Es ist traurig mit anzusehen, dass eine neue Generation unsere Maya-Tradition verachtet und sie als Zauberei oder Teufelswerk verdammt." Vor allem die aus den USA stammenden evangelikalen Sekten 'Kirche des Worts' und 'Versammlung Gottes' hätten sich in Guatemala mit dem Ziel angesiedelt, Anhänger zur Unterstützung der Militärdiktaturen der 70er und 80er Jahren zu gewinnen, berichtete González Yoc. Auch der Soziologe und Journalist Roger Pascual von der Nichtregierungsorganisation 'Agencia de Información Solidaria' (AIS) beschuldigt die US-Regierung, sie habe diese beiden fundamentalistischen Sekten unterstützt, um alles zu bekämpfen, was sie in Guatemala mit Kommunismus in Verbindung brachte.
In seiner 2003 im Auftrag der AIS erarbeiteten 'Analyse des Eindringens von Sekten in die politische Sphäre Lateinamerikas' schreibt Pascual: "Die US-Regierung hat den Aufbau der Pfingstbewegung 'Versammlung Gottes' so weit unterstützt, dass diese in Guatemala jetzt 1.500 Bethäuser sowie zahlreiche Rundfunk- und Fernsehstationen kontrollieren kann. Die Reagan-Regierung (1981 - 1989) stand hinter der Etablierung der 'Kirche des Wortes', die den von General José Efraín Ríos Montt angeführten Staatsstreich von 1982 unterstützte." In dem von 1960 bis 1996 dauernden Bürgerkrieg töteten die Streitkräfte in Guatemala ungefähr 200.000 Menschen, 45.000 so genannte Verschwundene eingerechnet. Die meisten Opfer waren Angehörige der Maya. Eine Million Menschen wurden aus ihrer Heimat vertrieben. 500.000 brachten sich in Mexiko in Sicherheit, und 250.000 Kinder verloren ihre Eltern.

Befreiungstheologie kämpft für Lateinamerikas Arme und Entrechtete

In diesen Jahren gewann in Zentralamerika auch die katholische Befreiungstheologie an Einfluss. Sie setzte sich für die Armen und Ausgegrenzten ein. Weil sie damit ähnliche Ziele verfolgte wie die revolutionären linken Bewegungen, die damals in der Region entstanden, geriet sie in den Verdacht, sie sei eine marxistische Gefahr. Der indigene Landarbeitersprecher Macas aus Ecuador sagte: "Die Religionen haben das Wesen unserer Familien und Gemeinschaften verändert. Die traditionell kollektive Natur der Ureinwohner wurde durch einen Individualismus ersetzt, der uns spaltet." Macas zufolge gibt es allein in Ecuador mehr als 300 Sekten. "Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Menschen einzulullen und gegeneinander aufzubringen, ganz im Interesse der großen Erdölgesellschaften und anderer Großkonzerne." Mit den kritisierten Sekten sind nicht die großen protestantischen Glaubensgemeinschaften wie die Baptisten, Lutheraner, Presbyter oder die Episkopalkirche gemeint. Ins Visier auch der katholischen Amtskirche sind finanziell gut ausgestattete fundamentalistische Bewegungen geraten, die mit ihren Heilsversprechen die traditionelle Kultur der Ureinwohner zerstören.

Sekten machen etablierten Kirchen Konkurrenz


"Sie sollten sich schämen, ein Protestant zu sein", wetterte in Mexiko der Kardinal von Guadalajara, Juan Sandoval Iñiguez. Auch Mexikos ehemaliger päpstlicher Nuntius Girolamo Prigione gebrauchte starke Worte: "Diese Sekten sind wie Fliegen, die man mit der Zeitung zerquetschen muss", ereiferte er sich angesichts der seelsorgerischen Konkurrenz. Der mexikanische Schriftsteller Carlos Monsiváis wirft der katholischen Kirche Intoleranz vor. "Es ist absurd, dass sie das Recht Indigener auf einen Glaubenswechsel bestreitet", meinte er. Unter den Kritikern der neuen protestantischen Bewegungen sind auch viele Vertreter der Befreiungstheologie wie der aus Spanien stammende brasilianische Bischof Pedro Casaldáliga. Er hat sich fast 40 Jahre lang für die Armen in Brasilien eingesetzt und sagte klagt: "Diese Sekten machen aus den Menschen geistlose, entfremdete Individuen. Sie töten ihre Seele." Andere sehen in den Sekten nur den langen Arm der USA, die die Menschen in Lateinamerika ideologisch beeinflussen wollen.
Auch Papst Paul II, der sich um den Dialog mit den großen Weltregionen bemüht hat, verurteilte Sekten, die ihre Anhänger mit Heilung, Teufelsaustreibung und dem Versprechen von Wohlstand gewinnen, als eine "Gefahr für die Christen". Als er 1991 Brasilien besuchte, betonte er, man müsse diese Sekten ebenso ablehnen wie das Drogengeschäft oder Kampagnen für Familienplanung. Der bolivianische Methodistenbischof Eugenio Poma vom Volk der Aymara sagte IPS, die wie Pilze aus dem Boden schießenden neuen Religionsgemeinschaften verfolgten "finstere" Interessen. Der Koordinator des Indigenen Pastoralkomitees des Lateinamerikanischen Kirchenrates (CLAI) erklärte: "Es gibt Kirchen wie diese zahlreichen Sekten, die es allein auf spirituelle Indoktrination abgesehen haben. Andere, wie wir, gehen in die Gemeinden, um von ihnen zu lernen und ihnen zu helfen. Diese völlig verschiedenen Interessen spalten uns." "Am Ende aber werden wir Ureinwohner unterschiedlichen Glaubens vermutlich doch gemeinsam für unsere Rechte und das Leben in der Gemeinschaft kämpfen", meinte der Kirchenmann zuversichtlich. "Schließlich wollen wir als Ureinwohner doch alle dasselbe."

 

Quelle: IPS